Hans Zimmermann :
12 KÖRBE: Quellen zum Thema "Schöpfung"
und zum Weltbild der Antike und des Mittelalters : Anselm von Canterbury
: Cur Deus homo
Anselmus Cantuariensis
Anselm
von Canterbury
fides
quaerens intellectum:
Cur Deus
homo
Warum Gott Mensch geworden
ist
1094-1098
zum
Inhaltsverzeichnis
lateinisch
/ deutsch
Lateinischer Text nach
der Edition von F.S. Schmitt, S.Anselmi Opera omnia (Edinburgh 1940),
übersetzt und in
Teilsatzgliederung ins Netz gestellt von Hans Zimmermann (Görlitz
2006)
XII. quod
quamvis incommodorum nostrorum particeps sit miser tamen non sit
XIII. quod
cum aliis infirmitatibus nostris ignorantiam non habeat
XIV. quomodo
mors eius praevaleat numero et magnitudini peccatorum omnium
XV. quomodo
deleat mors eadem etiam peccata eum perimentium
XVI. qualiter
Deus de massa peccatrice assumpsit hominem sine peccato
12. Daß er, obgleich er an unseren Beschwerden teilhat, doch
nicht unglücklich ist.
13. Daß er mit unseren anderen Schwächen die Unwissenheit
nicht besitzt.
14. Wie sein Tod die Zahl und Größe aller Sünden überwiegt.
15. Wie dieser Tod auch die Sünden derer tilgt, die ihn töteten.
16. Wie Gott aus der sündigen Masse den Menschen ohne Sünde
annahm;
und von der Rettung Adams und Evas.
capitulum xii
quod quamvis incommodorum nostrorum particeps
sit miser tamen non sit
12. Kapitel
Daß er, obwohl er an unseren Beschwerden teilhat, doch nicht
unglücklich ist
B.: omnia haec patenter ostendunt
eum mortalem et incommodorum nostrorum esse participem
oportere
sed haec omnia miseriae nostrae sunt
numquid ergo miser erit?
B.: All das beweist offenbar,
daß er sterblich sein und an unseren Beschwerden teilhaben muß;
das alles aber gehört zu unserem Elende;
wird er also etwa unglücklich sein?
A.: nequaquam
nam sicut ad beatitudinem non pertinet commodum
quod habet quis contra voluntatem
ita non est miseria apprehendere sapienter nulla
necessitate aliquod incommodum
secundum voluntatem
A.: Keineswegs;
denn wie zur Seligkeit nicht das Angenehme gehört,
das jemand wider seinen Willen erfährt,
so ist es kein Unglück, weise und ohne Zwang etwas Beschwerliches
auf sich zu nehmen,
das dem eigenen Willen entspricht.
B.: concedendum est
B.: Das muß man zugeben.
capitulum xiii
quod cum aliis infirmitatibus nostris ignorantiam
non habeat
13. Kapitel
Daß er mit unseren anderen Schwächen die Unwissenheit nicht
besitzt
verum in hac similitudine quam
habere debet cum hominibus
dic utrum ignorantiam quoque sicut alias infirmitates
nostras habiturus sit
B.: Jedoch bei dieser Ähnlichkeit, die er mit den Menschen haben
muß,
sage mir, ob er auch die Unwissenheit wie unsere anderen Schwächen
haben wird?
A.: quid dubitas de Deo
utrum sit omnia sciens?
A.: Was zweifelst du an Gott,
ob er allwissend ist?
B.: quia quamvis sit immortalis futurus ex divina
natura
mortalis tamen erit ex humana
B.: Weil er, obwohl er der göttlichen Natur nach unsterblich ist,
der menschlichen nach sterblich sein wird.
nam cur non similiter poterit homo ille esse
vere ignorans
sicut vere mortalis erit?
Denn warum wird jener Mensch nicht ähnlich wahrhaft unwissend
sein,
wie er wahrhaft sterblich sein wird?
A.: illa hominis assumptio in unitatem personae
Dei
non nisi sapienter a summa sapientia fiet
et ideo non assumet in homine quod nullo modo
utile
sed valde noxium est ad opus quod idem homo facturus
est
A.: Jene Annahme des Menschen zur Einheit der Person Gottes
wird von der höchsten Weisheit nur weise vollzogen werden
und deshalb wird er im Menschen nicht annehmen, was auf keine Weise
nützlich,
sondern sehr schädlich für das Werk ist, das dieser Mensch
vollbringen wird.
ignorantia namque ad nihil illi utilis esset
sed ad multa noxia
Denn die Unwissenheit wäre ihm zu nichts nützlich,
aber für vieles schädlich.
quomodo enim tot et tanta opera quae facturus
est
faciet sine immensa sapientia?
Wie nämlich wird er so viele und so erhabene Werke, die er vollbringen
soll,
ohne unermeßliche Weisheit vollbringen?
aut quomodo illi credent homines
si eum scient nescium?
Oder wie werden ihm die Menschen glauben,
wenn sie wissen werden, daß er unwissend ist?
si autem nescient
ad quid erit illi utilis illa ignorantia?
Wenn sie es aber nicht wissen werden:
Wozu wird ihm die Unwissenheit von Nutzen sein?
deinde si nihil amatur nisi quod cognoscitur
sicut nihil erit boni quod non amet
ita nullum bonum erit quod ignoret
Ferner: wenn man nichts liebt, außer was man kennt:
wie es nichts Gutes geben wird, das er nicht liebt,
so wird es nichts Gutes geben, das er nicht weiß.
bonum autem nemo perfecte novit
nisi qui illud a malo scit discernere
hanc quoque discretionem nullus scit facere
qui malum ignorat
Das Gute aber kennt niemand vollkommen,
außer wer es vom Bösen unterscheiden kann;
auch diese Unterscheidung weiß niemand zu machen,
der das Böse nicht kennt.
sicut igitur ille de quo loquimur omne
perfecte sciet bonum
ita nullum ignorabit malum
Wie also jener, von dem wir sprechen, alles Gute vollkommen kennen
wird,
so wird ihm auch nichts Böses unbekannt sein.
omnem igitur habebit scientiam
quamvis eam publice in hominum conversatione
non ostendat
Er wird also alle Kenntnis besitzen,
wenn er sie auch nicht öffentlich im Umgange mit den Menschen
zeigt.
B.: hoc in maiori aetate ita videtur sicut
dicis
sed in infantia
sicut non erit tempus congruum ut
in illo appareat sapientia
ita non erit opus et ideo nec congruum
ut illam habeat
B.: Das scheint im reiferen Alter so zu sein, wie du es sagst;
aber in der Kindheit wird es,
wie es keine geeignete Zeit dafür sein wird, daß in ihr
die Weisheit sich offenbare,
nicht so notwendig und daher auch nicht angemessen sein, daß
er sie besitze.
A.: nonne dixi quia sapienter fiet illa incarnatio?
A.: Sagte ich nicht, daß jene Menschwerdung weise geschehen wird?
sapienter namque assumet Deus mortalitatem
qua sapienter quia
valde utiliter utetur
Denn weise wird Gott die Sterblichkeit annehmen,
die er weise, weil sehr nützlich, gebrauchen wird.
ignorantiam vero non poterit assumere sapienter
quia numquam est utilis sed semper noxia
nisi forte cum per eam mala voluntas
quae numquam in illo erit
ab effectu restringitur
Die Unwissenheit aber wird er nicht weise annehmen können,
weil sie niemals nutzbringend, sondern immer schädlich ist,
außer etwa, wenn durch sie ein böser Wille,
der sich bei ihm niemals einstellen wird,
von der Auswirkung abgehalten wird.
nam etsi aliquando ad aliud non nocet
hoc solo tamen nocet
quia scientiae bonum aufert
Denn wenn sie auch manchmal nicht für etwas anderes schädlich
ist,
so schadet sie doch schon allein dadurch,
daß sie das Gut des Wissens nimmt.
et ut breviter absolvam quod quaeris
ex quo ille homo erit
plenus Deo semper ut se ipso erit
Und um es kurz zu erledigen, wonach du fragst:
Von dem Augenblicke an, wo jener Mensch existieren wird,
wird er immer von Gott wie von sich selber erfüllt sein.
unde numquam erit sine eius potentia et fortitudine
et sapientia
Daher wird er niemals ohne seine Macht und Stärke und Weisheit
sein.
B.: quamvis hoc in Christo semper fuisse non
dubitarem
ideo tamen quaesivi
ut de hoc quoque rationem audirem
B.: Obschon ich nicht zweifelte, daß das in Christus immer vorhanden
war,
so habe ich dennoch deshalb danach gefragt,
um auch den Grund dafür zu hören.
saepe namque aliquid esse certi sumus
et tamen hoc ratione probare nescimus
Denn oft sind wir gewiß, daß etwas ist,
und dennoch wissen wir es nicht mit der Vernunft zu beweisen.
capitulum xiv
quomodo mors eius praevaleat numero et magnitudini
peccatorum omnium
14. Kapitel
Wie sein Tod die Zahl und Größe aller Sünden überwiegt
nunc rogo ut doceas me
quomodo mors eius praevaleat numero et magnitudini
peccatorum omnium
cum unum quod putamus levissimum peccatum tam
infinitum monstres
ut si numerus obtendatur infinitus mundorum
qui sic pleni sint creaturis sicut est iste
nec possint servari quin redigantur in nihilum
nisi faciat aliquis aspectum unum contra voluntatem
Dei
non tamen fieri debeat
Jetzt bitte ich dich, mich zu belehren,
wie sein Tod die Zahl und Größe aller Sünden überwiegt,
da du zeigst, daß die eine Sünde, die wir für die geringste
halten, so unendlich ist,
daß, wenn man eine unendliche Zahl von Welten entgegenhielte,
die so von Geschöpfen erfüllt wären wie diese
und die nicht vor dem Sturz ins Nichts bewahrt werden könnte,
außer es tue jemand einen einzigen Blick gegen den Willen Gottes
es dennoch nicht geschehen dürfte.
A.: si esset praesens homo ille et quis esset
scires
et diceretur tibi:
nisi occideris hominem hunc
peribit mundus iste totus et quidquid Deus non
est
faceres hoc pro conservanda omni alia creatura
?
A.: Wenn jener Mensch anwesend wäre und du wüßtest,
wer er ist,
und man sagte dir:
wenn du diesen Menschen nicht tötest,
geht diese ganze Welt und alles, was nicht Gott ist, zugrunde:
würdest du es tun, um die ganze Schöpfung zu erhalten?
B.: non facerem
etiam si infinitus mihi numerus mundorum obteneretur
B.: Ich würde es nicht tun,
selbst wenn mir eine unendliche Zahl von Welten entgegengehalten würde.
A.: quid si iterum tibi diceretur
aut eum occides
aut omnia peccata mundi venient super te?
A.: Was, wenn man dir wiederum sagte:
entweder du wirst ihn töten,
oder alle Sünden der Welt werden über dich kommen?
B.: responderem me potius alia omnia velle peccata
suscipere
non solum huius mundi quae fuerunt et quae futura
sunt
sed et quaecumque super haec cogitari possunt
quam istud solum
B.: Ich würde antworten, daß ich lieber alle andern Sünden
auf mich nehmen wollte,
nicht nur dieser Welt, die begangen wurden und werden,
sondern auch die, die man sich zu diesen dazu denken könnte,
als diese allein.
quod non solum de occisione eius
sed et de qualibet parva laesione quae illum
tangeret
respondere me existimo debere
Nicht nur in bezug auf seine Tötung,
sondern in bezug auf jede kleine Verletzung, die ihn träfe,
glaube ich so antworten zu müssen.
A.: recte existimas
sed dic mihi cur ita cor tuum iudicat
ut plus horreat unum peccatum in laesione huius
hominis
quam omnia alia quae cogitari possunt
cum omnia quaecumque fiunt peccata contra illum
sint
A.: Du glaubst richtig;
aber sage mir, warum dein Herz so urteilt,
daß es mehr zurückschreckt vor der einen Sünde der
Verletzung dieses Menschen,
als vor allen anderen, die sich ausdenken ließen,
da doch alle Sünden, die begangen werden, sich gegen ihn richten?
B.: quoniam peccatum quod in persona eius fit
incomparabiliter superat omnia illa
quae extra personam illius cogitari possunt
B.: Weil die Sünde, die an seiner Person begangen wird,
unvergleichlich alle anderen Sünden überwiegt,
die sich außer seiner Person denken lassen.
A.: quid dices ad hoc
quia saepe libenter aliquis patitur quasdam in
sua persona molestias
ne maiores patiatur in rebus suis ?
A.: Was wirst du dazu sagen,
daß oft einer manchen Schaden an seiner Person gerne duldet,
um keinen größeren an seinem Eigentum zu erleiden?
B.: quia Deus non eget hac patientia
cuius potestati cuncta subiacent
sicut tu supra cuidam meae interrogationi respondisti
B.: Daß Gott diese Duldsamkeit nicht nötig hat,
dessen Macht alles unterliegt,
wie du oben auf eine meiner Fragen antwortetest.
A.: bene respondes
A.: Du antwortest gut.
videmus ergo
quia violationi vitae corporalis huius hominis
nulla immensitas vel multitudo peccatorum extra
personam Dei comparari valet
Wir sehen also,
daß mit der Verletzung des leiblichen Lebens dieses Menschen
keine Unermeßlichkeit oder Menge der Sünden außerhalb
der Person Gottes verglichen werden kann.
B.: apertissimum est
B.: Das ist ganz offensichtlich.
A.: quantum bonum tibi videtur
cuius interemptio tam mala est?
A.: Ein wie großes Gut scheint dir das,
dessen Vernichtung so schlimm ist?
B.: si omne bonum tam bonum est quam mala est
eius destructio
plus est bonum incomparabiliter
quam sint ea peccata mala
quae sine aestimatione superat eius interemptio
B.: Wenn alles Gute so gut ist, wie seine Zerstörung schlimm ist,
ist es ein unvergleichlich höheres Gut,
als die Sünden schlecht sind,
die ohne alle Einschätzung seine Vernichtung überwiegt.
A.: verum dicis
A.: Du sprichst wahr.
cogita etiam quia peccata tantum sunt odibilia
quantum sunt mala
et vita ista tantum amabilis quantum est bona
Bedenke auch, daß die Sünden so hassenswert sind, wie sie
schlecht sind,
und jenes Leben so liebenswert, wie es gut ist.
unde sequitur quia vita haec plus est amabilis
quam sint peccata odibilia
Daraus folgt, daß dieses Leben mehr liebenswert
ist als die Sünden hassenswert.
B.: non possum hoc non intelligere
B.: Das kann ich unmöglich nicht verstehen.
A.: putasne tantum bonum tam amabile posse sufficere
ad solvendum
quod debetur pro peccatis totius mundi?
A.: Glaubst du, ein so großes, so liebenswertes Gut könne
genügen, um einzulösen,
was für die Sünden der ganzen Welt geschuldet wird?
B.: immo plus potest in infinitum
B.: Im Gegenteil, noch ins Unendliche mehr vermag es.
A.: vides igitur quomodo vita haec vincat omnia
peccata
si pro illis detur
A.: Du siehst also, wie dieses Leben alle Sünden überwiegt,
wenn es für sie hingegeben wird.
B.: aperte
B.: Offensichtlich.
A.: si ergo dare vitam est mortem accipere
sicut datio huius vitae praevalet omnibus hominum
peccatis
ita et acceptio mortis
A.: Wenn also «das Leben hingeben» gleich ist mit «den
Tod annehmen»
wie die Hingabe dieses Lebens alle Sünden der Menschen überwiegt,
so auch die Annahme des Todes.
B.: ita esse de omnibus peccatis quae personam
Dei non tangunt constat
B.: Daß das von allen Sünden gilt, die die Person Gottes
nicht antasten, steht fest.
capitulum xv
quomodo deleat mors eadem etiam peccata eum perimentium
15. Kapitel
Wie dieser Tod auch die Sünden derer, die ihn töteten, tilgt
sed nunc video aliud quaerendum
Aber nun sehe ich, daß noch etwas anderes zu fragen ist.
nam si tam malum est eum occidere quam bona est
vita eius
quomodo potest mors eius superare et delere peccata
eorum qui eum occiderunt?
Denn wenn ihn töten so schlimm ist, wie sein Leben gut ist:
wie kann sein Tod die Sünden derer, die ihn töteten, überwiegen
und tilgen?
aut si alicuius eorum peccatum delet
quomodo potest aliorum quoque hominum aliquod
delere?
Oder wenn er die Sünde eines von ihnen tilgt:
wie kann er auch eine der anderen Menschen tilgen?
credimus enim quia et multi ex illis salvati
sunt
et innumerabiles alii salvantur
Wir glauben ja, daß viele von ihnen gerettet wurden
und daß unzählige andere gerettet werden.
A.: hanc quaestionem solvit apostolus qui dixit
quia si cognovissent numquam
dominum gloriae crucifixissent (1 cor 2,8)
A.: Diese Frage löst der Apostel, der sagte:
«Wenn sie ihn gekannt hätten, hätten sie den Herrn
der Herrlichkeit niemals gekreuzigt.»
tantum namque differunt scienter factum peccatum
et quod per ignorantiam fit
ut malum quod numquam facere possent pro nimietate
sua
si cognosceretur veniale
sit
quia ignoranter factum est
So sehr verschieden nämlich sind die wissentlich begangene Sünde
und die, die aus Unwissenheit geschicht,
daß das Böse, das sie ob seines Übermaßes niemals
tun könnten,
wenn es erkannt würde, verzeihlich ist,
weil es unwissentlich getan wurde.
Deum enim occidere nullus homo umquam scienter
saltem velle posset
et ideo qui illum occiderunt ignoranter
non in illud infinitum peccatum
cui nulla alia comparari peccata possunt
proruerunt
Denn Gott töten kann kein Mensch wissentlich auch nur wollen,
und deshalb sind die, die ihn ohne Wissen töteten,
nicht in jene unendlich große Sünde,
der keine anderen Sünden verglichen werden können, gefallen.
nam non consideravimus eius magnitudinem ad videndum
quam bona esset vita illa
secundum hoc quod ignoranter factum est
sed quasi scienter fieret
quod nec umquam fecit aliquis nec facere potuit
Wir haben nämlich nicht ihre Größe betrachtet,
um zu sehen, wie gut jenes Leben sei,
mit Blick darauf, daß sie aus Unwissenheit geschah,
sondern als ob sie mit Wissen begangen würde,
was niemals jemand tat noch tun konnte.
B.: rationabiliter interemptores Christi ad veniam
peccati sui pertingere potuisse monstrasti
B.: Du hast begründet bewiesen, daß die Mörder Christi
zur Verzeihung ihrer Sünden gelangen konnten.
A.: quid iam quaeris amplius?
A.: Was fragst du nun weiter?
ecce vides quomodo rationabilis necessitas ostendat
ex hominibus perficiendam esse supernam civitatem
nec hoc posse fieri nisi per remissionem peccatorum
quam homo nullus habere potest
nisi per hominem qui
idem ipse sit Deus
atque morte sua homines peccatores Deo reconciliet
Schau, du siehst, wie eine vernunftgemäße Notwendigkeit
zeigt,
daß die erhabene Stadt aus den Menschen zu vervollständigen
sei
und daß dies nicht ohne Erlaß der Sünden geschehen
könne, die kein Mensch haben kann,
außer durch den Menschen, der eben selbst Gott ist
und durch seinen Tod die sündigen Menschen Gott wiederversöhnt.
aperte igitur invenimus Christum
quem Deum et hominem confitemur
et mortuum propter nos
Offenbar folglich haben wir Christus gefunden,
von dem wir bekennen, daß er Gott und Mensch ist
und daß er um unseretwillen gestorben ist.
hoc autem absque omni dubietate cognito:
cuncta quae ipse dicit certa esse quoniam
Deus mentiri nequit
et sapienter esse facta quae fecit
dubitandum non est
quamvis non eorum ratio intelligatur a nobis
Ist aber das ohne jeden Zweifel erkannt,
so ist daran, daß alles, was er sagt, gewiß ist, weil Gott
nicht lügen kann,
und daß alles weise getan ist, was er tut,
nicht zu zweifeln,
auch wenn der Grund dafür von uns nicht erkannt wird.
B.: verum est quod dicis
nec aliquatenus quod dixit esse verum
aut quod fecit rationabiliter esse factum dubito
B.: Es ist wahr, was du sagst,
und ich zweifle in keiner Weise, daß das, was er sagte, wahr
sei
oder das, was er tat, vernünftig geschehen sei.
sed hoc postulo
ut quod quasi non
debere aut non posse fieri
videtur infidelibus in fide Christiana
hoc mihi qua ratione fieri debeat aut possit
aperias
non ut me in fide confirmes
sed ut confirmatum veritatis ipsius intellectu
laetifices
Aber das verlange ich,
daß du mir das, was gleichsam nicht geschehen dürfe oder
könne,
wie es denen scheint, die ungläubig sind im christlichen Glauben,
klarlegst, wieso es geschehen dürfe oder könne;
nicht um mich im Glauben zu bestärken,
sondern um den schon Befestigten mit der Einsicht in die Wahrheit zu
erfreuen.
capitulum xvi
qualiter Deus de massa peccatrice assumpsit hominem
sine peccato
et de salvatione Adae et Evae
16. Kapitel
Wie Gott aus der sündigen Masse den Menschen ohne Sünde annahm;
und von der Rettung Adams und Evas
quapropter sicut eorum quae supra dicta sunt
rationem aperuisti
sic peto ut eorum quae sum adhuc quaesiturus
rationem ostendas
Wie du also für das, was oben gesagt wurde, den Grund aufgedeckt
hast,
so bitte ich, daß du auch für das, was ich noch fragen werde,
den Grund aufzeigst.
primum scilicet qualiter de massa peccatrice
id est de humano genere quod
totum infectum erat peccato
hominem sine peccato quasi azimum de fermentato
Deus assumpsit
Und zwar zuerst wie Gott den Menschen aus der sündigen Masse,
das ist aus dem Menschengeschlechte, das durch die Sünde gänzlich
verseucht war,
ohne Sünde gleichsam ungesäuertes Brot aus dem Sauerteig
angenommen hat.
nam licet ipsa homines eiusdem conceptio munda
sit et absque carnalis delectationis peccato
virgo tamen ipsa unde assumptus est in
iniquitatibus concepta est
et in peccatis concepit eam mater eius (ps
50,7)
et cum originali peccato nata est
quoniam et ipsa in Adam peccavit
in quo omnes peccaverunt (rom 5,12)
Denn obwohl die Empfängnis dieses Menschen selber rein ist und
ohne die Sünde fleischlicher Lust,
wurde dennoch die Jungfrau selber, von der er genommen wurde, «in
Sünden» empfangen
und «in Sünden empfing» sie «ihre Mutter»,
und mit der Erbsünde wurde sie geboren,
weil auch sie in Adam gesündigt hat,
«in dem alle gesündigt haben».
A.: postquam constat hominem illum Deum et peccatorum
esse reconciliatorem
dubium non est eum omnino sine peccato esse
A.: Nachdem feststeht, daß jener Mensch Gott und der Versöhner
der Sünder ist,
ist es nicht zweifelhaft, daß er durchaus ohne Sünde ist.
hoc autem esse non valet
nisi absque peccato de massa peccatrice sit assumptus
Das kann er aber nicht sein,
wenn er nicht ohne Sünde aus der sündigen Masse genommen
wurde.
qua vero ratione sapientia Dei hoc fecit
si non possumus intelligere
non debemus mirari sed
cum veneratione tolerare
aliquid esse in secretis tantae rei quod ignoremus
Wenn wir aber nicht begreifen können, auf welche Weise die Weisheit
Gottes dies zustandebrachte,
dürfen wir uns nicht verwundern, sondern müssen es in Ehrfurcht
ertragen,
daß es etwas in den Geheimnissen einer so großen Sache
gibt, das wir nicht kennen.
quippe mirabilius Deus restauravit humanam naturam
quam instauravit
Denn Gott hat die menschliche Natur wunderbarer wiederhergestellt,
als er sie hergestellt hat.
aequaliter enim utrumque Deo facile est
sed homo antequam esset non peccavit
ut fieri non deberet
postquam vero factus est peccando
meruit
ut quod et ad quod
factus erat perderet
quamvis non perdiderit omnino quod factus erat
ut esset qui puniretur aut cui Deus misereretur
Beides ist nämlich Gott in gleicher Weise leicht;
der Mensch aber sündigte nicht vor seinem Dasein,
so daß er hätte nicht erschaffen werden dürfen;
doch nachdem er geschaffen war, hat er durch sein Sündigen verdient,
daß er das, als was und wozu er geschaffen wurde, verliere,
obwohl er nicht ganz verlor, als was er geschaffen wurde,
damit da sei, der gestraft würde oder dessen sich Gott erbarmte.
neutrum enim horum fieri posset
si in nihilum redactus esset
Keines von beiden könnte geschehen,
wenn er ins Nichts versetzt worden wäre.
tanto ergo mirabilius Deus illum restituit quam
instituit
quanto hoc de peccatore contra meritum
illud non de peccatore nec contra meritum fecit
Folglich hat Gott ihn um soviel wunderbarer wiedereingesetzt, als er
ihn eingesetzt hatte,
als er dieses an einem Sünder, gegen sein Verdienst,
jenes nicht an einem Sünder und nicht gegen sein Verdienst tat.
quantum etiam est Deum et hominem sic in unum
convenire
ut servata integritate utriusque naturae idem
sit homo qui Deus?
Was ist es auch Großes, daß Gott und Mensch so in eins
vereinigt werden,
daß bei Wahrung der Unversehrtheit der beiden Naturen derselbe
Mensch ist, der Gott ist!
quis ergo praesumat vel cogitare
quod humanus intellectus valeat penetrare
quam sapienter quam
mirabiliter tam inscrutabile opus factum sit?
Wer könnte sich also erkühnen, auch nur zu denken,
daß der menschliche Geist zu durchdringen vermöchte,
wie weise, wie wunderbar ein so unerforschliches Werk zustandekam?
B.: assentior
quia nullus homo potest in hac vita tantum secretum
penitus aperire
nec peto ut facias quod nullus homo facere potest
sed tantum quantum potes
B.: Ich stimme darin bei,
daß kein Mensch in diesem Leben ein solches Geheimnis vollständig
enthüllen kann,
und ich bitte nicht, daß du tust, was kein Mensch tun kann,
sondern nur soviel du kannst.
plus enim persuadebis altiores in hac re rationes
latere
si aliquam te videre monstraveris
quam si te nullam in ea rationem intelligere
nihil dicendo probaveris
Denn mehr wirst du überzeugen, daß in dieser Sache tiefere
Gründe verborgen liegen,
wenn du zeigst, daß du einen siehst,
als wenn du durch Nichtssagen beweist, daß du keinen Grund in
ihr erkennst.
A.: video me ab importunitate tua non posse liberari
A.: Ich sehe, daß ich von deinem Ungestüm nicht befreit
werden kann.
sed si aliquatenus potero quod postulas ostendere
gratias agamus Deo
Wenn ich jedoch einigermaßen, was du verlangst, werde zeigen
können,
wollen wir Gott dafür danken.
si vero non potero
sufficiant ea quae supra probata sunt
Wenn ich es dagegen nicht können werde,
möge genügen, was wir oben bewiesen haben.
cum enim constat Deum hominem fieri oportere
dubium non est sapientiam et potentiam illi non
deesse
ut hoc sine peccato fiat
Da es nämlich feststeht, daß Gott Mensch werden müsse,
ist es nicht zweifelhaft, daß ihm nicht Weisheit und Macht fehlen,
daß dies ohne Sünde geschehe.
B.: sic libenter accipio
B.: So nehme ich gerne an.
A.: oportuit utique ut illa redemptio quam Christus
fecit
prodesset non solum illis qui eo tempore fuerunt
sed etiam aliis
A.: Es war natürlich notwendig, daß jene Erlösung,
die Christus vollbrachte,
nicht nur denen, die zu jener Zeit lebten zugute kam,
sondern auch anderen.
sit enim rex aliquis
cui totus populus suae cuiusdam civitatis sic
peccavit
excepto uno solo qui
tamen de illorum est genere
ut nullus eorum facere possit
unde mortis damnationem evadat
Es sei zum Beispiel ein König,
an dem sich die gesamte Bevölkerung einer seiner Städte so
versündigte,
außer einem, der aber auch aus ihrer Bevölkerung ist,
daß keiner von ihnen etwas unternehmen konnte,
wodurch er der Todesstrafe entginge.
ille autem qui solus est innocens
tantam apud regem habet gratiam ut possit
et tantam dilectionem erga reos
ut velit omnes qui suo credent consilio reconciliare
quodam servitio valde ipsi regi placituro
quod facturus est die secundum voluntatem regis
statuto
Der aber, der allein unschuldig ist,
steht beim König so in Gnade, daß er es könnte,
und er hat eine solche Liebe zu den Schuldigen,
daß er alle, die seinem Rate glauben, durch einen dem König
sehr wohlgefälligen Dienst versöhnen wollte;
und zwar wird er das an einem nach dem Willen des Königs festgelegten
Tage tun.
et quoniam non omnes possunt qui reconciliandi
sunt ad diem illam convenire
concedit rex propter magnitudinem illius servitii
ut quicumque vel ante vel post diem illam confessi
fuerint
se velle per illud opus quod ea die fiet
veniam impetrare
et ad pactum ibi constitutum accedere
ab omni culpa sint absoluti praeterita
et si contigerit ut post hanc veniam iterum peccent
si digne satisfacere et corrigi deinceps voluerint
per eiusdem pacti efficaciam iterum veniam recipiant
Und weil nicht alle, die der Versöhnung bedürfen, an jenem
Tage zusammenkommen können,
gewährt der König um der Größe jenes Dienstes
willen,
daß alle, die vor oder nach jenem Tage bekennen,
sie wollten durch jenes Werk, das an jenem Tage geschehen wird, Verzeihung
erbitten
und dem dort geschlossenen Vertrage beitreten,
von aller vergangenen Schuld gelöst seien;
und wenn es geschähe, daß sie nach dieser Verzeihung wieder
sündigen,
sollten sie, falls sie würdige Sühne leisten und sich in
Zukunft bessern wollen,
durch die Wirksamkeit dieses Vertrages wiederum Verzeihung erlangen.
sic tamen ut nullus palatium eius ingrediatur
donec factum sit hoc unde culpae relaxantur
Jedoch so, daß keiner seinen Palast betrete,
bis geschehen ist, wodurch die Sünden vergeben werden.
secundum hanc similitudinem
quoniam non potuerunt omnes homines qui salvandi
erant praesentes esse
quando redemptionem illam Christus fecit
tanta fuit vis in eius morte
ut etiam in absentes vel loco vel tempore eius
protendatur effectus
Diesem Beispiele gemäß war,
weil nicht alle Menschen, die erlöst werden sollten, gegenwärtig
sein konnten,
als Christus jene Erlösung vollbrachte,
die Kraft in seinem Tode so groß,
daß sich seine Wirkung auch auf alle dem Orte oder der Zeit nach
Abwesenden erstreckte.
quod autem non solis praesentibus prodesse debeat
hinc facile cognoscitur
quia non tot praesentes eius morti esse potuerunt
quot ad supernae civitatis constructionem necessarii
sunt
etiam si omnes qui eiusdem mortis tempore ubicumque
erant
ad illam redemptionem admitterentur
Daß es aber nicht nur den Anwesenden zugute kommen dürfe,
läßt sich leicht daher erkennen,
daß nicht so viele bei seinem Tode anwesend sein konnten,
als zum Aufbau der erhabenen Stadt nötig sind;
selbst wenn alle, die zur Zeit dieses Todes irgendwo sich befanden,
zu jener Erlösung zugelassen würden.
plures enim sunt daemones
quam de quibus restaurandus est numerus eorum
ea die viverent homines
Denn es gibt mehr Dämonen,
als an diesem Tage Menschen lebten,
aus denen ihre Zahl wiederherzustellen ist.
nec credendum est
ex quo factus est homo ullum
tempus fuisse
quo mundus iste cum creaturis quae factae sunt
ad usus hominum
sic vacuus fuisset
ut nullus esset in illo ex humano genere
ad hoc pertinens propter
quod factus est homo
Und man darf auch nicht glauben,
daß es, seit die Menschen geschaffen wurden, eine Zeit gegeben
habe,
in der diese Welt mit ihren Kreaturen, die zum Nutzen der Menschen
gesychaffen wurden,
so leer gewesen wäre,
daß es keinen aus dem Menschengeschlecht gäbe,
der dazu gehört, wozu der Mensch geschaffen wurde.
videtur enim inconveniens
quod Deus vel uno momento permiserit
humanum genus et
ea quae fecit propter usum eorum
de quibus superna civitas perficienda est
quasi frustra extitisse
Denn es scheint unangemessen,
daß Gott auch nur einen Moment erlaubt habe,
daß das Menschengeschlecht und das, was er zum Nutzen derer geschaffen
hat,
aus denen die erhabene Stadt zu vollenden ist,
gleichsam umsonst existiert hätte.
nam aliquatenus in vanum esse viderentur
quamdiu non ad hoc propter quod maxime facta
essent
viderentur subsistere
Denn irgendwie scheinen sie vergebens zu sein,
solange sie nicht dazu, wozu sie ganz bersonders geschaffen wurden,
zu bestehen schienen.
B.: congruenti ratione et cui nihil repugnare
videtur
monstras nullum umquam fuisse tempus
ex quo factus est homo
absque aliquo qui ad eam pertineret
sine qua vane factus esset omnis homo
reconciliationem
B.: Mit vernünftigem Grunde, dem nichts zu widersprechen scheint,
beweist du, daß es seit der Erschaffung des Menschen niemals
eine Zeit gegeben hat
ohne jemanden, der zu jener Wiederversöhnung gehört,
ohne die jeder Mensch umsonst geschaffen worden wäre.
quod non solum conveniens sed etiam necessarium
esse
possumus concludere
Daß das nicht nur angemessen, sondern sogar notwendig sei,
können wir schließen.
si enim convenientius et rationabilius est hoc
quam aliquando nullum fuisse
de quo intentio Dei qua hominem fecit perficeretur
nec est aliquid quod huic obviet rationi
necesse est semper aliquem ad praedictam reconciliationem
pertinentem fuisse
Denn wenn dies angemessener und vernunftvoller ist,
als daß einmal niemand gewesen wäre,
mit dem die Absicht Gottes, mit der er den Menschen schuf, verwirklicht
würde,
und wenn es nichts gibt, das diesem Grunde entgegenstünde,
so ist es notwendig, daß ständig jemand existiert habe,
der zur vorerwähnten Wiederversöhnung gehört.
unde Adam et eva ad illam pertinuisse redemptionem
dubitandum non est
quamvis hoc auctoritas divina aperte non pronuntiet
Daher ist nicht zu bezweifeln, daß Adam und Eva zu jener Erlösung
gehört haben,
obwohl die göttliche Autorität das nicht offen ausspricht.
A.: incredibile quoque videtur
quando Deus illos fecit et proposuit immutabiliter
facere de illis omnes homines
quos ad caelestem civitatem assumpturus erat
quod illos duos ab hoc excluserit proposito
A.: Es erscheint auch unglaublich,
daß Gott, als er sie schuf und unabänderlich beschloß,
aus ihnen alle Menschen zu bilden,
die er in die erhabene Stadt aufnehmen wollte,
diese beiden von diesem Beschlusse ausgeschlossen hätte.
B.: immo illos maxime ad hoc fecisse credi debet
ut essent de illis propter quos facti sunt
B.: Im Gegenteil muß man glauben, daß er diese am ehesten
dazu erschaffen habe,
damit sie zu denen gehörten, um derentwillen sie geschaffen wurden.
A.: bene consideras
A.: Du schaust es richtig an.
nulla tamen anima ante mortem Christi paradisum
caelestem ingredi potuit
sicut supra dixi de regis palatio
Jedoch konnte keine Seele vor dem Tode Christi in das himmlische Paradies
eingehen,
wie ich oben vom Königspalaste sagte.
B.: sic tenemus
B.: So halten wir es fest.
A.: virgo autem illa de qua homo ille assumptus
est de quo loquimur
fuit de illis qui ante nativitatem eius per eum
mundati sunt a peccatis
et in eius ipsa munditia de illa assumptus est
A.: Jene Jungfrau aber, aus der jener Mensch angenommen wurde, von
dem wir sprechen,
gehört zu denen, die vor seiner Geburt durch ihn von den Sünden
gereinigt wurden,
und in dieser ihrer Reinheit wurde er von ihr angenommen.
B.: placeret mihi multum quod dicis
nisi cum ipse debeat a se ipso habere munditiam
a peccato
videretur eam habere a matre
et non per se mundus esse sed
per illam
B.: Es gefiele mir sehr, was du sagst,
wenn es nicht schiene, obwohl er selbst die Reinheit von der Sünde
aus sich selbst haben müßte,
daß er sie von der Mutter habe
und nicht aus sich, sondern durch sie rein sei.
A.: non ita est
sed quoniam matris munditia per quam mundus est
non fuit nisi ab illo
ipse quoque per se ipsum et a se mundus fuit
A.: Es ist nicht so,
sondern weil die Reinheit der Mutter, durch die er rein ist,
nur von ihm stammte,
so war er auch durch sich selbst und aus sich rein.
B.: bene est de hoc
verum adhuc aliud mihi videtur quaerendum
B.: Damit ist es gut;
aber mir scheint noch eine andere Frage offen zu bleiben.
diximus enim supra quia non necessitate moriturus
erat
et nunc videmus quia mater eius per eius mortem
futuram munda fuit
quod nisi illa fuisset
ipse de illa esse non potuisset
Wir sagten nämlich oben, daß er nicht mit Notwendigkeit
sterben sollte,
und jetzt sehen wir, daß seine Mutter durch seinen künftigen
Tod rein war;
wenn sie das nicht gewesen wäre,
hätte er nicht aus ihr sein können.
quomodo ergo non necessitate mortuus est
qui non nisi quia
moriturus erat potuit esse?
Inwiefern ist folglich der nicht mit Notwendigkeit gestorben,
der nur, weil er sterben sollte, sein konnte?
nam si moriturus non esset
virgo de qua assumptus est munda non fuisset
quoniam hoc nequaquam valuit esse nisi veram
eius mortem credendo
nec ille de illa potuit aliter assumi
Denn wenn er nicht sterben sollte,
wäre die Jungfrau, aus der er genommen war, nicht rein gewesen,
weil sie das auf keinen Fall sein konnte, außer durch ihren Glauben
an seinen wahren Tod,
und weil er nicht anders aus ihr angenommen werden konnte.
quare si non mortuus est ex necessitate
postquam assumptus est de virgine
potuit non esse de virgine assumptus
postquam est assumptus
quod non est possibile
Wenn er daher nicht aus Notwendigkeit gestorben ist,
nachdem er aus der Jungfrau angenommen wurde,
konnte er aus der Jungfrau nicht angenommen worden sein,
nachdem er angenommen war;
was nicht möglich ist.
A.: si bene quae supra dicta sunt considerasses
hanc quaestionem in illis ut
puto solutam intellexisses
A.: Wenn du, was oben gesagt wurde, gut überlegt hättest,
hättest du diese Frage darin, wie ich glaube, als gelöst
erkannt.
B.: non video quomodo
B.: Ich sehe nicht wie.
A.: nonne quando quaesivimus utrum ille mentiri
potuerit
monstravimus in mentiendo duas esse potestates
unam videlicet volendi mentiri alteram
mentiendi
et quoniam cum mentiendi potestatem haberet
hoc a se ipso habuit ut non posset velle mentiri
idcirco de sua iustitia qua veritatem servavit
eum laudandum esse ?
A.: Haben wir nicht, als wir untersuchten, ob jener lügen könne,
gezeigt, daß im Lügen zwei Fähigkeiten zu unterscheiden
sind,
nämlich die eine des Lügenwollens, die andere des Lügens;
und daß er, weil er, obwohl er die Fähigkeit zu lügen
besaß,
ebendies aus sich selbst hatte, daß er nicht lügen wollen
konnte,
darum für seine Gerechtigkeit, mit der er die Wahrheit bewahrte,
zu loben sei?
B.: ita est
B.: So ist es.
A.: similiter est in servando vitam
potestas volendi servare et potestas servandi
A.: Ähnlich ist bei der Bewahrung des Lebens
die Fähigkeit des Bewahrenwollens und die Fähigkeit des Bewahrens
zu unterscheiden.
cum ergo quaeritur utrum idem Deus homo potuerit
servare vitam suam
ut numquam moreretur
dubitandum non est quia semper habuit potestatem
servandi
quamvis nequiverit velle servare ut numquam moreretur
et quoniam hoc a se ipso habuit ut
scilicet velle non posset
non necessitate sed libera potestate animam suam
posuit
Wenn folglich gefragt wird, ob dieser Gott=Mensch sein Leben bewahren
konnte,
so daß er niemals starb,
ist nicht zu zweifeln, daß er stets die Fähigkeit des Bewahrens
hatte,
obwohl er nicht bewahren wollen konnte, so daß er niemals stürbe;
und weil er das aus sich hatte, nämlich daß er es nicht
wollen konnte,
so hat er nicht aus Notwendigkeit, sondern aus freier Macht sein Leben
hingegeben.
B.: non omnino similes fuerunt in illo istae
potestates
mentiendi videlicet et servandi vitam
B.: Nicht völlig ähnlich waren bei ihm diese Fähigkeiten,
nämlich zu lügen und das Leben zu bewahren.
ibi enim sequitur quia si
vellet posset mentiri
hic vero videtur quia si
non mori vellet non magis hoc posset
quam posset non esse quod erat
Denn dort folgt, daß er, wenn er es wollte, lügen könnte;
hier aber scheint es, daß er, falls er nicht sterben wollte,
das nicht mehr könnte,
als er nicht sein könnte, was er war.
nam ad hoc erat homo ut moreretur
et propter huius futurae mortis fidem
de virgine potuit assumi
sicut supra dixisti
Denn dazu war er Mensch, daß er stürbe,
und wegen des Glaubens an diesen künftigen Tod
konnte er aus der Jungfrau angenommen werden,
wie du oben sagtest.
A.: quemadmodum putas illum non potuisse non
mori
aut necessitate mortuum esse
quia non potuit non esse quod erat
ita potes asserere illum non potuisse velle non
mori
aut necessitate mori voluisse
quoniam quod erat non esse non potuit
A.: Wie du glaubst, daß er nicht nicht sterben konnte
oder daß er notwendigerweise gestorben ist,
weil er nicht nicht sein konnte, was er war,
ebenso kannst du behaupten, daß er nicht nicht sterben wollen
konnte
oder daß er notwendigerweise sterben wollte,
weil er, was er war, nicht nicht sein konnte.
non enim magis ipse factus est homo ad hoc ut
moreretur
quam ut vellet mori
Denn er ist nicht mehr dazu Mensch geworden, um zu sterben,
als um sterben zu wollen.
quapropter sicut non debes dicere quia non potuit
velle non mori
aut necessitate voluit mori
sic non est dicendum quia non potuit non mori
aut necessitate mortuus est
Wie du also nicht sagen darfst, daß er nicht nicht sterben wollen
konnte,
oder daß er aus Notwendigkeit sterben wollte,
ebenso darf man nicht sagen, daß er nicht nicht sterben konnte
oder daß er mit Notwendigkeit starb.
B.: immo quoniam eidem subiacent ratione
scilicet et mori et velle mori
utrumque videtur in illo necessitate fuisse
B.: Im Gegenteil, weil sowohl Sterben wie Sterbenwollen der gleichen
Ordnung unterliegen,
scheint beides in ihm mit Notwendigkeit gewesen zu sein.
A.: quis se sponte voluit hominem facere
ut eadem immutabili voluntate moreretur
et per huius fidem certitudinis
virgo munda fieret de
qua homo ille assumeretur?
A.: Wer wollte freiwillig sich zum Menschen machen,
damit er mit demselben unabänderlichen Willen stürbe,
und damit durch den Glauben an diese Gewißheit
die Jungfrau rein würde, aus der jener Mensch angenommen würde?
B.: Deus filius
Dei
B.: Gott, der Sohn Gottes.
A.: nonne supra monstratum est
quia Dei voluntas nulla cogitur necessitate
sed ipsa se spontanea sua servat immutabilitate
quando aliquid dicatur necessitate facere ?
A.: Ist nicht oben bewiesen worden,
daß Gottes Wille durch keine Notwendigkeit bezwungen wird,
sondern daß er sich mit seiner freiwilligen Unveränderlichkeit
wahrt,
wenn es von ihm heißt, daß er etwas mit Notwendigkeit tue?
B.: vere monstratum est
B.: Das wurde wirklich bewiesen.
sed videmus econtra quia
quod Deus immutabiliter vult non
potest non esse
sed necesse est esse
Jedoch sehen wir dagegen,
daß das, was Gott unabänderlich will, nicht nicht sein kann,
sondern notwendigerweise ist.
quapropter si Deus voluit ut
homo ille moreretur
non potuit non mori
Wenn daher Gott wollte, daß jener Mensch stürbe,
so konnte er nicht nicht sterben.
A.: ex eo quia filius Dei assumpsit hominem ea
voluntate ut moreretur
probas eundem hominem non potuisse non mori
A.: Daraus, daß der Sohn Gottes den Menschen mit dem Willen zu
sterben angenommen hat,
beweist du, daß dieser Mensch nicht nicht sterben konnte.
B.: ita intelligo
B.: So verstehe ich es.
A.: an non similiter apparuit ex iis quae dicta
sunt
filium Dei et assumptum hominem unam esse personam
ut idem sit Deus et homo
filius Dei et filius virginis?
A.: Ging aus dem Gesagten nicht in ähnlicher Weise hervor,
daß der Sohn Gottes und der angenommene Mensch eine Person sei,
daß ein und derselbe Gott und der Mensch sei,
der Sohn Gottes und der Sohn der Jungfrau?
B.: sic est
B.: So ist es.
A.: idem igitur homo sua voluntate non potuit
non mori
et mortuus est
A.: Folglich konnte derselbe Mensch durch seinen Willen nicht nicht
sterben
und starb.
B.: negare nequeo
B.: Das kann ich nicht leugnen.
A.: quoniam ergo voluntas Dei nulla necessitate
facit aliquid
sed sua potestate
et voluntas illius fuit voluntas Dei
nulla necessitate mortuus est
sed sola sua potestate
A.: Weil also der Wille Gottes mit keiner Notwendigkeit etwas tut,
sondern aus seiner eigenen Macht,
und der Wille jenes der Wille Gottes war,
starb er durch keine Notwendigkeit,
sondern allein aus seiner Macht.
B.: argumentationibus tuis obviare nequeo
B.: Ich kann deinen Beweisen nicht entgegentreten.
nam nec propositiones quas praemittis
nec consequentias quas infers ullatenus
infirmare valeo
Denn ich vermag weder die Sätze, die du vorausschickst,
noch die Folgerungen, die du anschließt, irgendwie zu entkräften.
sed tamen hoc mihi semper occurrit quod dixi
quia si vellet non mori
non magis hoc posset
quam non esse quod erat
Aber dennoch fällt mir das immer ein, was ich sagte,
daß er, falls er nicht sterben wollte,
das nicht mehr konnte
als nicht sein, was er war.
vere namque moriturus erat
quoniam si vere non fuisset moriturus
non fuisset vera fides futurae mortis eius
per quam et illa virgo de qua natus est
et multi alii mundati sunt a peccato
Denn er sollte wirklich sterben;
hätte er nämlich nicht sterben sollen,
wäre der Glaube an seinen künftigen Tod nicht wirklich gewesen,
durch den sowohl jene Jungfrau, aus der er geboten war,
wie auch viele andere von der Sünde gereinigt wurden.
nam si vera non fuisset
nihil prodesse potuisset
Denn wenn er nicht wirklich gewesen wäre,
hätte er nichts nützen können.
quapropter si potuit non mori
potuit facere non esse verum quod verum erat
Wenn er daher nicht sterben konnte,
konnte er machen, daß nicht wahr ist, was wahr war.
A.: quare verum erat antequam
moreretur
quia moriturus erat?
A.: Warum war wahr, bevor er starb,
daß er sterben sollte?
B.: quoniam hoc ipse sponte voluit et immutabili
voluntate
B.: Weil er dies selber freiwillig und mit unabänderlichem Willen
wollte.
A.: si ergo sicut
dicis idcirco non potuit non mori
quia vere moriturus erat
et ideo vere erat moriturus
quia hoc ipse sponte et immutabiliter voluit
sequitur illum non ob aliud non potuisse non
mori
nisi quia immutabili voluntate voluit mori
A.: Wenn er also, wie du sagst, darum nicht nicht sterben konnte,
weil er wirklich sterben sollte,
und er deshalb wirklich sterben sollte,
weil er das selber freiwillig und unabänderlich wollte:
so folgt, daß er aus keiner anderen Ursache nicht nicht sterben
konnte,
als weil er mit unabänderlichem Willen sterben wollte.
B.: ita est
B.: So ist es.
sed quaecumque fuerit causa
verum est tamen quia non potuit non mori
et necesse fuit illum mori
Aber was immer die Ursache gewesen sein mag,
so ist es doch wahr, daß er nicht nicht sterben konnte
und daß es notwendig war, daß er starb.
A.: nimis haeres in nihilo
et ut dici solet quaeris
nodum in scirpo
A.: Du hängst dich zu sehr an ein Nichts
und suchst, wie man zu sagen pflegt, einen Knoten an der Binse.
B.: an es oblitus
quid excusationibus tuis obiecerim in huius disputationis
nostras principio
quia videlicet quod postulabam non faceres doctis
sed mihi et hoc ipsum mecum petentibus?
B.: Hast du etwa vergessen,
was ich deinen Ausflüchten am Beginne dieser unserer Auseinandersetzung
entgegenhielt:
daß du das, was ich erbat, nicht Gelehrten tun sollst,
sondern mir und denen, die mit mir darum baten?
sustine igitur ut pro tarditate et hebetudine
nostri quaeram ingenii
quatenus mihi et illis etiam in puerilibus quaestionibus
sicut incepisti satisfacias
Dulde also, daß ich gemäß der Langsamkeit und Trägheit
unseres Geistes frage,
damit du mir und ihnen auch in kindischen Fragen,
so wie du begonnen hast, Genüge tust!
weiter
zum nächsten Kapitel
zurück
zum Inhaltsverzeichnis (alle Kapitel-Überschriften)
Hans Zimmermann :
12 KÖRBE: Quellen zum Thema "Schöpfung"
und zum Weltbild der Antike und des Mittelalters : Anselm von Canterbury
: Cur Deus homo
zurück
Seitenanfang