19. Die Substanzen  
      

    Wir wollten es genauer wissen, was das war mit den farbenflammenden Gambengesängen im Tabernakel des Isenheimer Altars. Dieses Füllhorn gewandelter Gluten. So kamen wir auf die Hofmannschen Elixiere zu sprechen.  

    Ich schaute im Lexikon nach und faßte zusammen: "Ja, in der Tat. Der Mann hat ein Kreislaufmittel gesucht, und da hat er diese alte Geburtshilfe namens Mutterkorn auch zwischengenommen und ist bei seinen synthetischen Experimenten auf die Reise geraten. Er glaubte, er sei der erste gewesen mit dieser Art Rausch."  

    "Was du alles weißt! Aber wer würde da nicht widersprechen."  

    "Mein lieber Heinrich, läßt mich nachschlagen und weißt alles besser? Na laß mal hören, was so in dir steckt. Wir sind ja vor Überraschungen nicht sicher."  

    "Lucy in the Sky with Diamonds, die hat der Chemiker in der Tat als erster berührt. Pygmalion weckt seine Galatée. Aber die nächstverwandten Alkaloide, die das gleiche Erlebnis hervorrufen, die gleiche Bewußtseinsart wie das dargestellte Kreislaufmittel, die sind schon längst bekannt - von den visionären Vorstufen des Antoniusfeuers einmal abgesehen - den präkolumbianischen Indianerpriestern nämlich, mein lieber Lexikosoph. Diese Arzneien wachsen frei in der weiten Apotheke da draußen, Mutter Natur genannt. Besonders der Gottesfleisch-Pilz – ja, was für ein Name! – und die himmelblaue Kaiserwinde, die im Sommer in den Gärten rankt."  

    Mein lieber Heinrich, dachte ich, mußt du dich denn in solchen Hymnen offenbaren? Wir sind nicht auf der Traumebene, da sieht doch jeder gleich, daß du nicht bloß in Büchern, sondern in Erfahrungen gelesen hast. Nur zögernd gab ich zu: "Ja, ich erinnere mich langsam, das habe ich auch mal gelesen. Merkwürdig." -  

    "Na, du Rahm eines Wolfes, was erachtest du des Merkens für würdig?" -  

    "Heinzelmännchen, alter Kobold!" Ja, ich reichte ihm gerade seine Pudelmütze. "Siehst du das denn nicht auch? Wie abgründig das ist, daß eine Religion auf Drogen zurückgreift, wohl um religiöse Erfahrung zu schöpfen, oder um zu zaubern? Ja nun, gewiß ein altes Schamanen-Element." -  

    "Und selbst im Christentum: Das hat ja gewisse schamanische Elemente, wenn ich an das Bild vom Lebensbaum, Todesbaum, Selbstopfer des göttlichen Arztes, an das Psalmzitat des ärztlichen Priesters am Holze denke. Ist das nicht ein Schamanenlied?"  

    Das mit dem Psalm fand ich doch ziemlich gewagt, aber ich unterbrach ihn nicht, und während wir uns auf den Weg zum Café machten und die Treppe hinabstiefelten, fuhr er ohne Rücksicht auf meinen kopfschüttelnden Nachbarn, der gerade seine Wohnungstür aufschloß, in seiner Vorlesung fort: "Ich weiß nicht, wie ist das mit Brot und Wein? Wenn ich mir das anschaue, so sind diese beiden Gestalten doch heute so etwas wie eine kultische Verkleinerung, Verfeinerung eines ursprünglich recht drastischen und völlig alltäglichen Grundsachverhalts."  

    "Grundnahrungsmittels, meinst du. Nun, eben damit sind sie doch alles andere als Drogen oder überhaupt besondere magische Substanzen und nicht einmal Heilmittel im engeren Sinne?"  

    Der Nachbar, der innegehalten hatte, um übers Geländer im Treppenhaus zu uns hinunterzuschauen, lallte etwas vor sich hin und knallte dann die Tür hinter sich zu.  

    "Grundnahrungsmittel - ja Wolfram, so ist es beim Brot; doch der Wein ist ja nicht im gleichen Sinne lebensnotwendig, sonst hätte Wasser die Stelle einnehmen müssen. Was brauchen wir zum Leben, das dann der Heiligung bedarf? Zuerst einmal Luft; ohne sie sterben wir in wenigen Minuten. Dann Wasser; ohne das bleiben einem nur wenige Tage. Dann das Brot, feste Nahrung im weitesten Sinne; ohne Essen mag man etwa sieben Wochen durchhalten. Dann nehmen wir über diese Nahrungswege eine Vielzahl an besonderen Substanzen in kleinen und kleinsten Mengen in uns auf, Spurenelemente, Vitamine, aber das ist in den genannten drei Lebensgrundelementen im gesunden Sinne vorhanden. Was aber ist mit den verschiedenen Medizinen? Viele stecken in Gewürzen und Kräutern, die an der Nahrung teilhaben können, aber das ist ein weiter Plan, da kommen die regionalen Unterschiede der Werte und Bräuche, die geschmacklichen und kulturellen Bedürfnisse; und dann die Rauschgetränke allüberall – wie will man das allgemeingültig beurteilen?"  

    Wir stiegen in meine Kiste, und er setzte fast ohne Unterbrechung sein Reiselied fort, nachdem er die Tür auf seiner Seite zugezogen hatte:  

    "Wie will man das vergleichen und ordnen? Wirklich, ein offenes Feld. Bei all dem, was der Körper in sich produzieren kann an psychogenen Substanzen, da ist nur eines sicher: Daß nämlich das, was wirklich lebensnotwendig ist, was dazugehört und was nicht, eben nicht so einfach zu entscheiden ist. Aber das größere Rätsel bleibt mir dabei, wie der Mensch denn so reichhaltig und fein abgestimmt Korrespondenzen findet in der umgebenden Natur. Nicht nur, daß da über die komplexe Nahrung hinaus Mittel sind gegen alle möglichen Krankheiten – versuch das mal mit Darwinscher Evolutions-Auslese zu erklären, der blinde Überlebenskampf wird da ja selbst zu einem durchsichtig fein in sich ausgestalteten Gesamtorganismus! -, sondern daß da offensichtlich sogar für das religiöse Feld und für die Bewußtseinsentwicklung des Menschen, diese letzte Phase der Evolution, Korrespondenzen da sind -"  

    "Was für eine Rede!", antwortete ich, während ich die Handbremse löste, die dummerweise noch immer hochgezogen gewesen war. Kein Wunder, daß der Wagen beim Anfahren so bockte und stockte. "Und ziemlich gestelzt. Meinetwegen, sei vorsichtig, wer weiß, ob deine Verkündigungen eines Tages in jemandes rote Ohren gelangen."  

    "Ich gehe davon aus, daß alles, was wir denken und sagen, in irgendeiner Form das Licht findet. Ich muß immer dafür einstehen können. Rede ich gestelzt? Aber die Sache ist doch höchst verwickelt! Wie soll man das entscheiden?"  

    "Wie soll ich das wissen?", fragte ich ihn zurück. Ich hatte jetzt die Abbiegung verpaßt und suchte die nächste Straße nach rechts, aber nun wurde ich am Bahndamm entlanggepreßt, an einem trostlosen Gemäuer. Bemooster Beton und Kopfsteinpflaster. Die Gegend war mir unbekannt. "Mir fehlt ja jede Erfahrung. Ich kann nur vermuten, daß all das, was man an Berichten und Deutungen der Erfahrung hört und liest, nicht wirklich Bewußtseinserweiterung ist, denn das ist, so denke ich, gerade das höchste Prinzip unserer nüchternen Bewußtwerdung, daß sie durch uns selbst geleistet wird und einer Erweckung des Menschen in ihm selbst entspringt."  

    "Na, Wolfram, soll ich dich an das erinnern, was du sonst immer von dir gibst? Von wegen Geschenk und verdanken und ausgleichen und so weiter?" Er wollte mich wohl daran erinnern, daß ich die Bildung unseres Nervensystems als eine unverdiente Gabe zu bezeichnen pflegte, von dessen Vorleistung unser Wachbewußtsein weit übertroffen werde an Intelligenz und schöpferischer Hingabe. Gewiß, das war nun in der Tat so paradox, daß ich es nicht lösen konnte. Ich gab mich geschlagen.  

    Verdammt, wie sollte ich nur aus dieser Schiene herauskommen? Es war doch offensichtlich die falsche Richtung. Gottseidank, ein Tunnel da vorne. Auf der anderen Seite des Bahndamms konnte ich in die ursprüngliche Richtung zurücksteuern. Konsequenterweise mußten wir so zum Bahnhof kommen.  

    "Tja, Hendrik, ich weiß nicht, wie es sinnvoll und logisch zu erklären ist, daß wir einerseits nur durch uns selbst aufwachen, uns aufwecken können zu jeder Art vernünftiger Erkenntnis und selbstbewußter Initiative, und daß wir andererseits gerade das als das Bedingteste, Voraussetzungsvollste, als die jüngste Phase der Welt- und Menschenentwicklung überhaupt von der Evolution, von der zum Menschen entfalteten Natur entgegennehmen müssen. Hunde, Eidechsen, Fliegen können sich ja offensichtlich nicht zur Vernunftbegründung ihrer Handlungen entschließen."  

    "Und sind dabei selbst hochgradig Ausdruck von Vernunft, von kluger Lebenseinrichtung."  

    "Eben, das meine ich. Was hat dann der Mensch voraus, daß jedes äußere Medikament der Natur, das auf das Bewußtsein wirkt, nur einen Abstieg hervorrufen kann? Sieht es nicht vielmehr geradezu so aus, als ob der Mensch sich eben dadurch von der weisen Naturordnung abhebt, daß er ein unausgegorenes Gebilde ist, unfertig wie ein wandelnder Embryo – du kennst das, es ist eine alte anthropologische These – daß also kein Absturz von geistigen Höhen erfolgt, wenn er eine bewußtseinserweiternde Arznei findet, sondern die Heilung des alten oder meinetwegen jungen, jüngsten Mangels seiner Naturentwicklung erlebt?"  

    "Also, das wäre doch ein starkes Stück! Heilung vom Menschsein!"  

    "Nein, nicht so, aber jetzt bin ich's, der vorsichtig wird, denn das bliebe noch immer paradox, wenn ich sagte: Heilung vom gefallenen Menschsein."  

    "Am Ende: Heilung vom Bewußtsein?"  

    "Um Gottes willen! Bewußtseinserweiterung als Beseitigung des Bewußtseins!"  

    "Wenn nicht Bewußtsein selbst schon einem Abfall von der Naturweisheit entspringt, einer Minderung des allgestaltenden Bewußtseins? Das Rätsel liegt ja schon darin, nicht erst in der Umwendung dieses Sachverhaltes."  

    Eine Einbahnstraße mit Engpaß, letzten Endes eine Sackgasse ohne die Möglichkeit einer Umwendung. So saßen wir fest. Die Kotflügel eingedrückt. Wie sollten wir da wieder herauskommen?  

    Die Türen waren nicht aufzubekommen, so saßen wir schweigend da. Hendrik ließ ein wenig bedrückt seinen Blick zu mir hochkriechen. Ich konnte mich einfach nicht mehr halten und prustete laut los.  

    Ich kannte das Spiel. Offensichtlich hatte unsere Prüfung schon angefangen. Irgendwo nahm jetzt ein schwarz gekleideter Beobachter seine Brille ab und kaute auf den Bügeln herum. Ja, ich war schon mal durch die Prüfung gefallen, nein, nicht die Fahrprüfung, du Witzbold, ach lassen wir das.  

    Geduld muß man haben, Humor, und sich umsehen. Wofür hat man denn seine Spiegel. Hier vorne im Geburtskanal war's zwar etwas still und einsam, aber hinten liefen doch Leute über die Straße, Autos bogen ein, natürlich in die andere Richtung. Den Weißkittel, nein den wollte ich lieber nicht herbeirufen; wir duckten uns ein wenig. Der hätte die ganze Situation bedenklich mißverstehen können.  

    Ob die Schwarzen selbst da hinten etwa mit aufgeschlagener Zeitung über den Zebrastreifen liefen, vorne ein Loch im Leitartikel? Mit karierten Hüten?  

    Ja, Hut, der große Hut! Dieser wild fuchtelnde Fluglotse – ein Wunder! – natürlich war das Lisetta, mit der wir uns im Café treffen wollten, und ich hupte sie herbei. Sie winkte uns gestenreich rückwärts heraus aus dem Schlamassel und wir versuchten das Ganze mit Anlauf noch einmal von vorn. Es knirschte wieder an den Seiten, wir verloren diesmal die Scheinwerfer; noch einmal heraus nach hinten, und dann setzte sich die Gute zu uns und wir fuhren auf ein Neues hinein, ohne anzuhalten, Augen zu und durch.  
      
     

  
    20. Das Café II.  
      
       
    "Na, da habt ihr euch ja ganz schön verwickelt, ihr beiden", lachte sie, zwischen den Freunden eingehakt. "Nun nehmt euch mal ein wenig in euch selbst zurück: Den Menschen als retardierte Entwicklung, Weltembryo, Keimanlage im Vollbesitz aller Möglichkeiten, – warum seht ihr nicht eben den als den goldenen Keim an, von dem alles andere abgefallen, hinausgezweigt und ausgebrochen ist? Jedenfalls dieses Mosaik -", sie wies auf das filigrane Stahlgerüst und das blättrige Mauerwerk der Wände, während wir das Café betraten und uns einen freien Tisch suchten, "die Außenseite für unsere Augen, all das, was unseren Sinnen dinglich zerstückelt erscheint in der Natur, als Spezialisierung der Organe bei den Tieren, schließlich als unsere verhärtete Erwachsenen-Maske? Unsere Menschenrollen wälzen sich immer neu hervor, entquellen immer neu einer im Grunde bleibenden urkindlichen Offenheit in unseren Schlafenstiefen."  

    Aber noch in ihrem Ausdruck, ihrer harten Schale, ist die Natur doch unendlich viel weiser, klüger, durchdachter als alles wache Menschentun und Menschenwerk?  

    Sieh mal einer an, das kommt uns doch bekannt vor! Ja natürlich, das sind doch deine Skizzen, deine Bilder, Elischa! Warum hast du uns nichts davon gesagt, daß du hier eine Ausstellung hast? Dann muß diesmal ja auch die Speisekarte von dir gestaltet sein.  

    Bevor wir sie noch über die Lesbarkeit der Natur im Allgemeinen und des Elisabethanischen Barocks im Besonderen ausfragen konnten, wurde sie vom ägyptischen Kellner zum Tresen gewunken und verschwand bei ihm in der Küche, mit Hut und Mantel. Wir blieben etwas verdutzt zurück und setzten uns erst einmal hin. Bleibt nichts, müssen wir selbst sehen, wie wir uns listig zur Liste durchfinden, nicht wahr, Hendrik? Wie, essen willst du nichts? Aber doch trinken. Such auch irgendwas für mich mit raus, ich muß mal eben für Knaben.  

    So saß er alleine da, schaute ratlos um sich in den Qualm, blickte ratlos auf die Karte, die bereits vor ihm auf dem Tisch lag, hörte sich ratlos in die Musik hinein, oder richtiger: hörte sich aus ihr heraus, denn nun merkte er, darin war er geschwommen die ganze Zeit, distanzlos, nun tauchte er auf, sie bewußter wahrzunehmen.  

    Wie Kinder spielen, Pitschegepatsch durch die Pfützen, dieses Regenstück, du kennst es, mit der deutlich sprechenden Gitarre, waaoung twacka di woung waow, gequert von den Strahlen einer wäßrigen Orgel, im Bluesrhythmus wechselnd gedehnt und gequetscht wie Gummibänder, Bälle, elastische Zerrspiegel: der knisternde Schmetterlings-Tropfen-Fluß, hüpfend, fließend, wiehernd, zitternd. Irgendetwas in der Wärme des Raumes, vielleicht die Vertrautheit des Liedes, das Vorbereitung war auf ein noch intimeres Ereignis von Seelenverzauberung, schmeckte ihm, als wenn es sein eigen wäre. Ob es an Elischas verflochtenen Initialen lag, die an den Wänden hingen und die Mauern zu gliedern, zu durchdringen schienen, als atmete der Blick in die Tiefe, bis in den innigsten Fluchtpunkt: hier – ?  

    Als wenn es sein eigen wäre – das machte ihn neugierig auf die Speisekarte. Die Musik gab sich zu trinken. Ob sie ihn wieder aus eigener Substanz nährte? Lischa konnte in der Chemie der Sinne wohl einige Wunder vollbringen. Schon das Deckblatt hatte etwas von der nächtlichen Fensterscheibe eines Fahrzeugs, voller Wasserschlieren und Lichtperlen. Leopardenfell, Ölgeschmier, herbstlicher Moder, Waschbeton. Rundliche, eiförmige, amöbenfüßige Flecken, einige gebuchtet oder gekerbt wie Efeu, in schweifenden Linien verbundener Wein. Gänsehaut und Schuppengitter, sprühende Gischt, das Schiff schwankte und in Kurvenscharen glitten Delphine über die Reling, hinaus ins Gewoge, denn am Mast reckte der Gott seine zarten Glieder: Der sich den Fesseln entwand, den umwanden die Ranken, ein Lächeln inmitten von Raubtierschrecken, Lähmung und Verwandlung, süß brach das Blut durch die Adern. Purpurn blinkte das Meer.  

    Mein Vater, du Steuermann, öffne die Seite mir und spiel auf den Saiten den Wind, der alle die Antworten birgt, den Atem, den Sturm. Da tanzen sie hin, die körnigen Zeichen, da drehen sie sich umeinander, Spiralenrosetten, durch Haut und Haar, die Sperlinge, goldenen Stäube und Laub, das ist alles erfüllt von der Lieben, Eliebeschabeth, das krause Gewölke. Wie kannst du das lesen?  

    Die Schrift, sie nährt. Sie regt die Geschmacksknospen tief im Rachen, die tierische Lust auf blutigen Wein, auf blumige Tränen, Gelächter und kehliges Grollen. Beißen will ich den Nacken dir und kauen dein Fleisch, deine Lippen lesen, den innigsten Wunsch. Da steigt in die Glieder ein wohliges Leben, da blinkt von den Seiten ein listiges Lächeln, die Grübchen, sie bohren sich tief in die Wangen, es schmerzt und es lacht durch die Augen, die Sonne, das Licht, das Licht, das Licht, – mein Licht, du! Singe mir ein immer neues Lied, den Saft, der sich durch alle Räume bäumt, die Sterne schäumt, dort, als wir noch, ja, als wir, Liebe -  
      

        
      als wir noch durch Bäume wuchsen  
      Licht vom Lichte Blatt um Blatt  
      Sonne aller Söhne Herz und  
      Nahrung war mit ihrem Seim  
         
      sah ich dich schon knospenzart  
      wurde werdend niemals satt des  
      Werdens, schloß die Hände sanft um  
      deinen Schlummerblütenkeim  
         
      öffnete mit dir mich wieder  
      falteten wir Blatt um Blatt  
      Träume aus der Muttermitte  
      Liederbögen Reim um Reim  
       
      
    Da blüht sie auf, die innige Identität von Punkt und Raum im sonnigen Spiel, daraus die Strahlengarben erwachsen, reif sich neigen, um ihre Funkensaat zu neuen Himmeln zu wölben, Sphärenfrüchten gleich, wo schlafumgossen in austernrauhen Schalen wir verschlossen lagen – ja wir  
      
     
      schmiegten gern uns auch der harten  
      Rinde des Vergessens ein in  
      Mark und Bein in Stock und Stein – wo  
      hält die Erde dich geheim?  
         
      Brich durch die zerrißne Rinde  
      meiner Lider meiner Lippen  
      Schmetterling entblüh dem Herzen  
      meiner Flammen Herd und Heim  
       
      
    Stand der schon lange da, der Kellner? Er gähnte etwas unwillig, schien aber von der Seite her Hendrik neugierig zu beobachten, wie der mit seinem Bleistift das Lied im Innern der Karte nachzuschreiben versuchte:"He, das ist hier nicht Selbstbedienungskunst! Also, was bestellen Sie? Wie, noch nichts herausgesucht?" -  
    Der Nachdichter, kaum aus dem Wasser gefischt, federte mit gesundem Selbstvertrauen wie ein Kunstspringer zurück in das sprießende Element, ins Elisabethanische Zeitalter. Das war schließlich die Speisekarte. Was anderes wollte denn dieser Kerl? Der Gast ist König auf seinem heiligen Berge! Sollte er doch warten, dieser Pinguin da, na? – immer schön zuhanden, zudiensten, zuwillen bleiben!  
    Nun gut, wenn's denn gezeigt sein muß, – er wies auf das Lied.  

    "Nein, das haben Sie doch eben selber in die Karte hineingepinselt. Das gibts nicht!" -  

    Hendrik blieb ruhig und reichte dem Kellner die Karte zurück. Bitteschön, Ihr Text! -  

    Der schlug die Seite wie ein Evangelium weit auf und drückte das Heft wieder auf den Tisch, Hendrik vor die Brust, der sollte es ihm selbst vorlesen. Er habe die Nase voll von den Spielchen, daß jeder meine, einfach die Ornamentik der Karte bestellen zu können: "Wenn das dasteht, was Sie wünschen, dann können Sie's ja auch vorlesen. Und was Sie da hineingemalt haben, bitteschön, das entziffern Sie doch selbst am besten." -  

    Ich habe nur sorgfältiger nachgelesen, nachgezeichnet, was da schon stand. Sehen Sie selbst. -  

    Inzwischen waren sie schon von Gästen umringt, die die Rätselgerichte der Ägypter hier liebten.  

    Ja, Hendrik mußte sich erst wieder hineinsehen in das Gewirr, die Linien entlangziehen mit seinem nachzeichnenden Blick, die blauen Winden dort, die Brombeerbrücken, Efeu und Wein, um die Reimschnur der Verse wiederzufinden.  

    Er wußte, er mußte die Liederbögen in ihre Verzweigungen und Knoten verfolgen, sehen, wo sie sich ausspreizten, wo sie entsprangen, wo sie sich hervorschwangen in die Oberfläche, die Quellen der Flecken, Tropfen, Blätter und Flammenzungen suchen und dort eintauchen mit seiner Aufmerksamkeit. Die Tiefe tat sich auf, der Keimgrund der Gewächse und des hervorschäumenden Gesträuchs, der entgegenstrahlenden Gräser und hochhütigen, hochbeinigen Pilze: die mütterlichen Gewebe, traumvertraut und gütegesättigt, die Arabesken um immer neu die gleiche Mitte, unendlich wiederholt. Singe mir ein altes Lied -  

    Nun, gewiß, das war es, aber wie es aussprechen? Es war doch gegenwärtig, erfüllte den Raum, als sei es sein eigener Leib – wieso es bestellen? Es war sie, doch wo blieb sie nur? Hörte denn keiner -  

    "Also, es ist", stotterte er, "es heißt – mmmh – das nenne ich – ja, das nenne ich – -"  

    Ein feines Knistern meinte er, wie das Aufspringen einer Knospe, wie der Flügelschlag des Schmetterlings, einen Pulsschlag so zart, daß das Herz wie ein Donnern diesem Blitz gefolgt wäre, hätte er es nur aussprechen können, einem Spiritus lenis vergleichbar, einem Aleph, noch geringer vielleicht, noch unmerklicher, – aber es gelang ihm nicht, das dem Kellner mitzuteilen, und so stockte er, alles war gespannt, wurde so still, daß das Brausen in seinen Ohren es übersang, überrauschte, das Blut immer tosender, und wie er ihn hervorzubringen versuchte, den Namen des Gewünschten, den erlösenden Laut – brach die Stille auf, wie in einem kurzen hohen Ton, dem abgerissenen Stöhnen einer Braut, und in den Schleifen der blauen Winde zog sie an ihm vorbei, an der aufgebäumten Woge der oben schon zerreißenden Spannung entlang schoß sie aus Fernen in die Ferne, die Regenbogenbotin, und hinter ihr, über ihr – doch sie war schon dahingeschnellt wie ein Meteor -  

    brach die Brandung herein, donnerten die Züge, hallten die Lautsprecher durcheinander, mischten sich die Gerüche, die Farben, die Hitze, die Stimmen, verwoben sich polyphon in den neugotisch-protzigen, kolonialzeitlich-üppigen Domgewölben von Stahl und Glas, die bäumten sich über die Säulengebirge, die Knochengebälke, in Bögen, Girlanden weit gespannt. Und all den Lärm von Stimmen, Begrüßung, Abschied, Gelächter, Gezeter, das heisere Tuten der Maschinen, die knackenden Lautsprecher mit zerkauten Durchsagen und den Singsang von hier und da durchgellte immer noch der Mann in der Mitte der riesigen Halle, der da unten auf einem der Bahnsteige saß, der Pilger mit seiner Zimbel, zii, zimm zimm zii, zimm zimm zii, -  

    Hendrik beugte sich über den Tisch, das Gesicht auf der Elisabethanischen Karte, und zog die Arme fest über seinen Kopf.  
      
     

      
    21. Eli Eli  
       
      
    Elischa, vom ägyptischen Kellner geführt, ahnt schon, was sie im Küchenraum des Bahnhofscafés erwartet: wohl der Ordensleiter? In der Tat, da steht der alte Jünger auf von seinem Hocker, nimmt die hohe weiße Mütze ab, reicht ihr höflich die Hand und gibt ihr selbst diesen Platz am Zubereitungstisch. "Nein, setzen Sie sich nur dahin, ich arbeite am Herd und backe Brot. Darf ich vorstellen? Herr Hofmann ist unser Küchenmeister und bereitet die Speisen am Tisch; Herr Kurinshoru ist Schriftführer, das heißt: Gedächtnisprotokollant; den Wirt der Vielen macht Herr Thot, nein er heißt wirklich so, ach Sie kennen ihn schon. Woher?  

    Sieh an, das sind also Ihre Bilder im Gästeraum? Und die Speisekarte auch? Das ist ja interessant. Gut, dann wissen Sie ja, was wir anzubieten haben. Sie werden nämlich die Getränke zubereiten. Ja nun, Sie wissen doch selbst, was Sie auf die Karte geschrieben haben? Zeigen Sie mal her -  

    Nur die Hülle und die Einrahmung? Wie unterscheidet sich das denn hier? Ist ja ein Schrieb von allen Seiten."  

    Er setzt also seine Brille wieder auf und spielt den Prüfer. -  

    "Sie wissen, daß Ihre wahre Stärke, oder besser: Gefährdung, in der Philosophie liegt? Wir haben mit Ihnen zusammen auch immer Ihre beiden Freunde im Gedächtnis. Sehen Sie, der eine ältere, der sich für einen Philosophen hält, den können Sie noch gut widerlegen. Und der andere, der jüngere von den beiden, ist auch eher ein Dichter, wie mancher schlechte Komponist. Aber vor allem ist das Ihr großer – ja, wie sagt man? – Rezipient, Ihr Publikum.  

    Woher ich das weiß? Nun, sehen Sie mal: Wir sind ja schon den ganzen Tag hier, und es kommen viele, viele Menschen hier hindurch, ich meine die Gäste im Café. Und jeder schlägt die Karte auf und bestellt aus der eingelegten Liste. Aber Ihr Freund, der kann sich nicht sattsehen an Ihren Arabesken, der trinkt die Farben und Linien förmlich in sich hinein, und mit Bewegung, also das ist schon eine Sympathie, wenn Sie verstehen, was ich meine, ein Mitfühlen mit Ihren Metamorphosen, ich muß schon sagen – der ist ein Genie der optischen Rezeption. Ja, gewiß, mit musikalischen Organen, aber eben sehr fruchtbar für die Dynamik des Visuellen, des Optischen.  

    Nun, wenn wir das mal auf unsere Art betrachten, weniger musikalisch, mehr als Ausdruck Ihrer Lebenssignatur – verstehen Sie, was ich sagen will? – wenn wir Ihre Zeichnungen und Aquarelle als Zeichen Ihres ureigenen Lebensstromes aufzufassen versuchen, dann haben wir den Eindruck, Sie könnten sich mal etwas zurückschneiden.  

    Vielleicht sollten Sie mal nach Japan für einige Jahre?"  

    Er tauscht Blicke mit Herrn Kurinshoru, dem Meister mit den ins Unendliche verfalteten Augenlidern unter hohen Brauen, der sich das Heft gleichfalls anschauen will und beifällig schmunzelt.  

    Herr Thot kommt mit einigen Bestellungen.  

    "Nun, dann machen Sie mal den Tee."  

    Während Lischa Wasser aufsetzt, Tassen reinigt und nach den Gewürzen Ausschau hält, stochert der alte Jünger mit sichtlichem Vergnügen im Ofen herum und unterhält sich mit dem Protokoll-Meister. Herrn Hofmann lassen sie wohl ein wenig außer acht, der ist auch vollauf mit verschiedenen Gemüsen beschäftigt. Auf einmal wird das Gespräch laut geführt, als solle sie mit einbezogen sein.  

    "Heinrich, der Wagen bricht. Ach nein, der Wagen ist es nicht. Es ist der Brand in seinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als er in dem Brunnen saß, Stürme trank und Winde naß" – so etwa versteht sie es. Ihre Ohren werden immer größer, aber sie läßt sich fast nichts anmerken.  

    "Nein nein", ist jetzt doch der Gemüseputzer zu vernehmen: "Wenn er in Flammen geraten ist, dann wohl kaum von den Pfingststürmen. Die sind leicht, erheben den wildesten Sturz noch zur Himmelfahrt. Da muß etwas anderes sein, vielleicht in der Folge, wie ein genau dem entsprechender Gegenschlag."  

    "Ein Männlein steht am Wegrand, ganz still und stumm. Es hat von Gold und Silber ein Lichtlein um. Sag, wer mag das Männlein sein, das da steht im Wiesenrain, mit dem hohen Hut, dem spitzen Käppilein?" – Die beiden Alten lachen; Kurinshoru greift sich den weißen Küchenhut des Chefs und schiebt ihn plötzlich in den Ofen, bevor der alte Jünger die Klappe zuschlagen kann. Gott, was für Kinder!  

    "Nein, das auch nicht", fährt Herr Hofmann unbeeindruckt fort, "obwohl das im Hintergrund mitzudenken ist. Übrigens gar nicht so weit weg. Da müssen wir wohl später noch einmal drauf zurückkommen. Aber zum Vorigen: Das Rauschen der Winde, das hat da noch Entsprechungen, denke ich, und was mag das sein? Nun, ich weiß nicht – das sind – -"  

    "Zwei blaue Augen", lacht der Tanzmeister, Monsieur Kurinshoru: "Die Göttin, jaja, Ihre Galatée, Herr Hofmann, sie ist an ihm vorbeigesegelt. Das ist sein Schmerz."  

    Der Gemüsemeister blickt erstaunt auf. Aber Kurinshoru wendet sich mit harmloser Heiterkeit an den alten Jünger, bevor der Rivale sein geliebtes Geschöpf weiter ins Gespräch bringen kann:  

    "Können wir ihn aufnehmen? Ist er wieder geheilt?" -  

    "Beinahe. Aber nicht ganz - nein – -" Etwas in der Stimme des Funkenstiebers wächst ins Leise, Bedrohliche: "Er hat ja Freunde, die ihn aufwärmen – da ist die kalte Dusche umsonst gewesen. Er fastet – sie geben ihm zu essen. Er arbeitet - sie verführen ihn zur Improvisation. Er übt sich – sie zerbrechen ihm die Jakobsleiter mit Metaphysik. Und nun – können Sie sich denken, was sich da breitgemacht hat? Ich denke oft, diese ganze Bande von Mysterienverrätern müßte noch einmal gründlich durch alle Prüfungen gezogen werden und durchfallen, damit sie nicht noch die nächste Generation in Brand stecken."  

    Er knallt die Ofenklappe zu, wendet sich zu den Kollegen und schlägt mit der Faust auf den Tisch:  

    "Ich will alle drei vor mir sehen! Noch heute!"  

    Der Küchenchef weist den zornigen Jünger darauf hin, daß er nun genug Hitze im Herd gemacht habe, er möge ihm doch bitte einige Brotfladen, um sie zu belegen, zureichen.  

    "In der Tat, Chef. Sie müssen schon noch einige nahrhafte Gründe beilegen.", lacht auch der alte nach innen Verfaltete: "Vergessen Sie doch bitte nicht, welchen Anteil wir daran haben! Wirkung provoziert Gegenschläge, und diese wiederum Gegenwirkungen. Ganz so nichts, wie wir wollten, haben wir ja nicht getan."  

    Das klingt für Elischa ein wenig verwirrend. Sie wüßte überhaupt gerne, ob mit der blauäugigen Galatée die schlanke Iris gemeint ist, doch das zu fragen steht ihr nicht zu.  

    Sie hat die Tassen gespült, findet nun Kardamom und Ingwer, schließlich kocht das Wasser schon bald, – wie nun weiter verfahren? Zwei Teekannen stehen bereit; sie will nicht die üblichen Gläser mit Beutel hinsetzen, sondern etwas Eigenes mischen, wie sie es selbst zu Hause auch trinken würde.  

    Warum schauen die nun grinsend zu ihr herüber und drehen die Daumen?  

    Irgendetwas fehlt. Wacholderbeeren vielleicht? Oder eine Spur Zimt?  

    Ttth, schnalzen die Alten und wiegen bedächtig die Köpfe, verraten aber nichts. Und setzen ihr Gespräch fort, denn die Geisha wird ihnen ja nicht weglaufen. Wir haben Zeit. Also.  

    Der Prüfer treibt nun Gymnastik, er kommt ganz schön ins Schwitzen beim Teigkneten. Trotzdem hält er seine Rede:  

    "Ein elender Aberglaube hat sich da breitgemacht zwischen den dreien und bezieht uns auf eine paradoxe Weise mit ein. Jeder von denen glaubt nämlich, andere seien für seine Taten und Erlebnisse verantwortlich. Manche halten sich sogar selbst für den Autor des ganzen Gordischen Knotens." -  

    "Wieso Gordischer Knoten? Haben Sie etwa das Schwert gezückt und wollen ihn zerhauen?", fragt Meister Kurinshoru.  

    "Ich beklage nicht den Knoten, sondern das Mißverständnis, als sei das alles aus einem Seil geknüpft. Natürlich muß jeder seine Verantwortung nach außen hin ausdehnen, wie es seinen Kräften entspricht. Aber man stelle sich vor, wir würden nicht nur die Rezepte, sondern auch die Bestellungen vorgeben, wir würden die Gäste an Marionettenfäden ziehen oder sie als Masken unserer ich weiß nicht was für Spiele benutzen!  

    Und nun trägt unser Philosöphchen Wolfram die ganze Geschichte, so weit er sie eben versteht, als Ich-Erzähler vor, obwohl der jüngere Freund und unsere Kandidatin hier seinem Erfahrungsraum und seiner Verantwortung schon längst entglitten sind."  

    Elischa schwant schon, gleich werde sie drankommen.  

    "Und der kleine Tannhäuser betet erst die Holde vom Eis als seine Göttin an, dann packt ihn eine gewaltige Regression, und er will zurück in den Mutterschoß, träumt sich in die Muster von Mamas Rockzipfel zurück. Wie sogar die kühle Iris nur knapp unter der Flut dieser Phantasien davongekommen ist, das wissen Sie, verehrter Kurinshoru, am besten. Aber alle zusammen sehen uns als eine Geheimloge an, als Spione und Detektive, wenn nicht sogar als Versucher und Prüfer ihrer Lebenswege!"  

    In die Pause hinein meldet sich Elischa zu Wort: "Ich bitte um Verzeihung, gnädige Herren, wenn es mir erlaubt ist, das hier zu bekennen, – aber keiner und keine von all denen, die Sie genannt haben, hat sich in dem Maße dieser Verfehlung schuldig gemacht wie ich selbst. Denn sogar hier im Café hängen die Vorarbeiten zu einem Werk, in dem ich unsere Biographien wie ein Flechtbandmuster darstellen wollte, und ich habe mich geradezu hineingesteigert in die Idee, so etwas wie die Malerin und Farbenquelle dieses ganzen Gewebes zu sein. Ich nehme Ihr Urteil mit Beschämung an."  

    "Na, da wird's uns doch deutlich gewiesen", schüttelt der alte Jünger den Kopf: "Wir sind wieder einmal die Urteiler, die Prüfer, die Verhänger und Vollstrecker. Das ist es ja eben. Wollen Sie nicht endlich Ihren Tee zustandebringen?"  

    "Ach ja!", ruft Elischa und schlägt sich an die Stirn, "Das ist's, das fehlt: Teeblätter! Bitte, wo finde ich die?"  

    "Schon gut", sagt beruhigend Meister Kurinshoru, klopft ihr lächelnd auf die Schulter und nimmt ihr den Kessel ab. Schließlich will er den Tee auf seine Art trinken; das ist wichtiger als diese Prüfungsmätzchen. Er hat sein Zubehör und die grünen Knollen bei sich in der Tasche. So feiert er stets seinen Nachmittag.  

    Und da kommt der Ägypter herein, mit Sorgenfalten auf der Stirn lacht er, weint er fast: "Was machen wir nur mit diesem Gast hinten am Geländertisch?", und er schildert die ganze Entwicklung. "Was bringe ich dem jetzt?"  

    Eines ist klar: Der hat die Prüfung nicht bestanden, der darf auf keinen Fall in die Schulungsklasse eintreten. Der hat verbotene Speisen genascht, Nektar der Götter getrunken, den Himmel in Brand gesetzt.  

    Ihm wird aller Erfolg versagt. Zu keiner Prüfung soll er mehr zugelassen sein, und wenn er doch antrete, solle er sie zu Lebzeiten nicht bestehen, sei es als Musiker, als Dichter, als Denker, als Maler. Schluß, aus. Wer die Perle der Ewigkeit berührt habe, wer die gewaltigen Götter geschaut habe, wer das Aphrodisiakum der Himmel genossen habe, der wisse:  

    "Der Himmel und Götter und Engel verzückteste Sehnsucht heißt sterben, zerreißen im sinnlosen, sinnlosen Taumel des irdischen Wahns -"  

    "Nein!", schreit Elischa in die Runde der Meister, die da um den Herd stehen und gemeinsam in einem großen Kessel ihre Suppe rühren, "Nein! Wer seid ihr denn, daß ihr das sagen dürft, daß ihr so urteilen dürft!"  

    "Wie schön, mein Kind, daß du's endlich begreifst. Wer sind wir denn. Und du? Ist das nicht dein eigener, ureigenster Text? Gut, nun sag es selbst: Was hat dein Heinrich denn zu bestellen? Was sollen wir ihm kredenzen?"  

    Soll man da lachen oder weinen.  

    Elischa begreift, daß nun die Reihe an ihr ist. Sie nimmt ein sauberes Glas, läßt klares Wasser ein und geht damit hinaus, ins Café.  

    Eine Träne oder mehr rollen in das Glas, als sie ihn sieht, Hendrik, wie er verzweifelt über die Landkarte der Empfindungen gebeugt dasitzt, mit seinen Armen gegen die Gruppe gepanzert, die ihn noch umringt. Lischa wischt ihr Gesicht trocken und faßt sich.  

    "Bitte, bitte, gehen Sie beiseite. Es ist alles in Ordnung." Schließlich kommt sie hindurch, wartet ein wenig, bis sich die Leute verlaufen oder wieder hingesetzt haben, dann legt sie ihre Hand auf seine Schulter.  

    Wie Wärme einzieht und sich im Körper verteilt, so dringt ihre Güte, die bekannte Freundlichkeit in ihn ein, durch Nacken und Rücken ins Herz, in die Arme. Er lockert sich, schaut zu ihr auf. Sie sieht sich kurz in seinen Augen gespiegelt, mit dem Glas in der Hand. Er nimmt es, dankt und trinkt daraus.  

    Ja, das ist es. Erquickt gibt er ihr das Glas zurück, und sie geht wieder in die Küche zu den kauzigen Meistern.  

    Die beiden Uniformierten zusammen mit dem Schaffner, ach ja, er hat die schon ganz vergessen, sind über die große Holzbrücke hinaufgestiegen und kommen endlich am Tisch an. Ja, sie haben seinen Fahrschein: Den wollen sie ihm nur zurückgeben, er habe ihn bei dem Schaffner im Zug gelassen, der habe den Fahrgast nicht mehr gefunden, irgendetwas der Art wohl, Hendrik versteht ja ihre Sprache nicht, nur ihre Gestik. Kaum zu glauben: Sie geben ihm glatt seinen Scheinfahrschein zurück. Noch immer, schon wieder das alte Spielscheinspiel.  

    Er läßt sich nichts anmerken, drängt sich durch die hölzerne Querbrücke über den Geleisen, vorbei an den Bettlern und Gemüsefrauen, durch das bunte Treiben hindurch, um sich, vor sich, hinter sich das aufdringliche Gewimmel des riesigen Bahnhofs, aber nicht zum Bahnsteig, sondern – da hinten, wo am Horizont noch jenseits der filigranen Rosettendächer das Meer den Strand bespült, da will er hin und dem Ozean lauschen, dem Gesang der Sirenen, dem Wind im Saitenspiel der Sonnenstrahlen.  
       
     

 
Fortsetzung: Kapitel 22-24
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I. Enneade   
   
1. Prolegomena   
2. Ouvertüre   
3. Iris   
    
4. House burning down 
5. Die Reise   
6. Pupille   
    
7. Rasur   
8. Das Café I   
9. Der Chemiker
II. Enneade   
   
10. Das Brot   
11. Der Kelch   
12. Wasserwüsten   

13. Die Wellentaucher 
14. Die Ersten – die Letzten 
15. Die Wellenreiter   

16. Feuermeere   
17. Die Brüder   
18. Der Wein

III. Enneade   
   
19. Die Substanzen   
20. Das Café II   
21. Eli Eli   

22. Umweg   
23. Der Garten   
24. Er kehret nicht zurück 

25. Oh du lieber Abendstern 
26. Dahin zog's mich   
27. Katalegomena

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Heinrich von Ofterdingen, Wolfram und Klingsôr im "Sängerkrieg auf der Wartburg"
 
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