In mehr als
einer Beziehung unterscheidet sich das Râmâyana
wesentlich vom Mahâbhârata.
Vor allem hat es einen viel geringeren Umfang und eine viel
größere Einheitlichkeit. Während das Mahâbhârata
in seiner jetzigen Gestalt kaum noch als ein
eigentliches Epos bezeichnet werden kann, ist das Râmâyana
auch in der Form, in der es uns heute vorliegt,
noch ein ziemlich einheitliches Heldengedicht. Während ferner die
einheimische Überlieferung den Vyâsa,
einen ganz mythischen Seher der Vorzeit, der zugleich der Sammler der Vedas
und der Purânas
gewesen sein soll, zum Verfasser oder Herausgeber
des Mahâbhârata
macht, bezeichnet sie einen Dichter namens Vâlmîki
als den Verfasser des Râmâyana;
und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, daß ein Dichter dieses
Namens wirklich gelebt und die im Munde der Barden verstreut lebenden Gesänge
von Râma zuerst
in die Form eines einheitlichen Gedichtes gegossen hat. Diesen Vâlmîki
nennen die Inder »den ersten Kunstdichter«
(âdikavi),
sowie sie das Râmâyana
gerne als »das erste Kunstgedicht«
(âdikâvya)
bezeichnen. In der Tat führen die Anfänge der epischen Kunstdichtung
auf das Râmâyana zurück,
und Vâlmîki ist
stets das Vorbild geblieben, dem alle späteren indischen Kunstdichter
bewundernd nachstrebten. Das Wesentliche der indischen Kunstdichtung, des
sogenannten Kâvya,
besteht darin, daß in ihr auf die Form größeres Gewicht
gelegt wird als auf Stoff und Inhalt der Dichtung, daß sogenannte
Alamkâras,
d.h. »Schmuckmittel«, wie Vergleiche, poetische Figuren, Wortspiele
usw. in großem Maße, ja im Übermaße verwendet werden.
Da werden Vergleiche über Vergleiche gehäuft; und Schilderungen,
insbesondere Natur-
*)
Die Probleme des Râmâyana
hat zuerst eingehend behandelt Albrecht Weber,
»Über das Râmâyana«
(Abhandlungen der Berliner Akademie aus dem Jahre 1870, S.188). Grundlegend
und zum Teil auch den folgenden Kapiteln zugrunde liegend ist Hermann Jacobi,
Das Râmâyana.
Geschichte und Inhalt. Bonn 1893. Einen guten Überblick über
die ganze Râmalitteratur
gibt Al. Baumgartner S.J., Das Râmâyana
und die Râmalitteratur
der Inder. Freiburg i.B. 1894. Manche gute Bemerkungen hat auch C.V. Vaidya,
The Riddle of the Râmâyana,
Bombay und London 1906.
405
Schilderungen,
werden mit immer neuen Bildern und Gleichnissen unendlich ausgesponnen.
Von diesen und anderen Eigentümlichkeiten der klassischen Kunstpoesie
finden wir im Râmâyana
bereits die ersten Anfänge. Während
wir also im Mahâbhârata eine
Mischung von volkstümlicher Epik und theologischer Lehrdichtung (Purâna)
sehen konnten, stellt sich uns das Râmâyana
als Mischung zwischen Volksepos und Kunstdichtung
dar.
Ein wahres
Volksepos ist es, ebenso wie das Mahâbhârata,
weil es gleich diesem Eigentum des ganzen indischen Volkes geworden ist
und wie kaum ein zweites Gedicht der gesamten Weltlitteratur Jahrhunderte
hindurch das ganze Denken und Dichten des Volkes beeinflußt hat.
In der (später hinzugedichteten) Einleitung zu dem Epos wird erzählt,
daß Gott Brahman selbst
den Dichter Vâlmîki aufgefordert
habe, die Taten des Râma in
Versen zu besingen; und der Gott habe ihm das Versprechen gegeben:
»So
lang' die Berge stehn, so lang'
Die Flüsse
auf der Erde sind:
So lange wird
in dieser Welt
Das Lied von
Râma weiter
leben«.
Dieses Wort
hat sich bis zum heutigen Tage als ein wahrhaft prophetisches erwiesen.
Seit mehr als zweitausend Jahren hat sich das Gedicht von Râma
in Indien lebendig erhalten, und es lebt fort
in allen Schichten und Klassen des Volkes. Hoch und niedrig, Fürst
und Bauer, der Landedelmann wie der Kaufmann und der Handwerker, Prinzessinnen
und Hirtenmädchen sind wohlvertraut mit den Gestalten und Geschichten
des großen Epos. Die Männer erheben sich an den ruhmreichen
Taten und erbauen sich an den weisen Reden des Râma;
die Frauen lieben und preisen Sîtâ
als das Ideal der Gattentreue, der höchsten
Frauentugend. Jung und alt aber ergötzt sich an den Wundertaten des
treuherzigen Affen Hanumat und
nicht minder an den schaurigen Märchen von menschenfressenden Riesen
und zauberkräftigen Dämonen. Volkstümliche Redensarten und
Sprichwörter geben Zeugnis von der Vertrautheit des Volkes mit den
Geschichten des Râmâyana.
Aber auch die Lehrer und Meister der verschiedenen religiösen Sekten
berufen sich auf das Râmâyana
und schöpfen aus ihm, wenn sie religiöse
und moralische Lehren im Volke verbreiten wollen. Und die Dichter
406
aller späteren
Zeit, von Kâlidâsa bis
auf Bhavabhûti,
haben immer wieder aus dem Râmâyana
ihre Stoffe geschöpft und sie neu bearbeitet.
Wenn wir zur neuindischen Litteratur der Volkssprachen kommen, so
finden wir schon im Anfang des 12. Jahrhunderts eine Tamilübersetzung
des Sanskritepos, und bald folgen Nachdichtungen und Übersetzungen
in den Volkssprachen vom Norden bis zum Süden Indiens. Das auf
dem alten Epos beruhende religiös-philosophische Hindigedicht Râm-carit-manâs,
um 1631 von dem berühmten Tulsî
Das verfaßt, ist für Millionen
von Indern geradezu ein Evangelium geworden. Generationen von Hindus in
allen Teilen Indiens haben die alte Sage von Râma
in solchen modernen Übersetzungen kennen
gelernt. In den Häusern der Reichen werden noch in unseren Tagen Rezitationen
des Gedichtes veranstaltet. Auch dramatische Bearbeitungen der Geschichte
von Râma,
wie solche schon im Harivâmsha erwähnt
werden (oben S.386 A.), kann man in Dörfern und Städten Indiens
bei religiösen Festen noch heute aufgeführt sehen. So wird im
nördlichen Indien, z.B. in Lahore, alljährlich das Dasahrafest
durch das »Râmaspiel«
(Râm Lîla)
gefeiert, bei welchem die beliebtesten Szenen aus dem Râmâyana
vor einer ungeheuren Zuschauermenge zur Aufführung
gelangen 1). Ob die weit über Indien verbreitete
Verehrung des Affenkönigs Hanumat als
einer Lokalgottheit und die Affenverehrung überhaupt auf die
Volkstümlichkeit des Râmâyana
zurückzuführen ist, oder ob umgekehrt
die hervorragende Rolle, welche die Affen in der Râmasage
spielen, aus einem älteren Affenkult erklärt werden muß,
mag dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß ein Bild des Affenkönigs
Hanumat in keinem
größeren Dorfe Indiens fehlt, und daß es in vielen Tempeln
von Affen wimmelt, die mit großer Schonung und Liebe behandelt werden.
Dies ist namentlich in Oude, der alten Residenzstadt des Râma,
der Fall 2).
1)
Eine lebendige Schilderung dieses Festes nach eigener Anschauung
gibt J.C. Oman, The Great Indian Epics, the Stories of the Râmâyana
and the Mahâbhârata. London 1899,
S.75 ff. Ziemlich verworren ist die Schilderung von F. Reuleaux, Eine Reise
quer durch Indien im Jahre 1881. Berlin 1884, S. 68 f., 231.
2)
Vgl. W. Crooke, Popular Religion and Folklore of Northern India, Allahabad,
1894, S.51 ff. W.J. Wilkins, Hindu Mythology 2nd.
ed. Calcutta 1882, S.405. Paul Deussen, Erinnerungen an Indien, Kiel 1904,
S.128.
407
Râma
selbst, der Held des Râmâyana,
wurde gewiß erst nachträglich zu einer Inkarnation des Gottes
Vishnu gemacht
und dann als Halbgott verehrt. Daß dann auch das von diesem halbgöttlichen
Râma handelnde
Epos den Charakter eines heiligen Buches annahm, kann uns nicht überraschen.
So heißt es denn gleich in dem (natürlich nicht von Vâlmîki
herrührenden) ersten Gesang:
»Wer
diese reine, sündenvernichtende, heilige, mit den Vedas vergleichbare
Geschichte von Râma liest,
wird von allen Sünden befreit.
Der Mann,
der dieses lebenspendende Erzählungswerk (âkhyâna),
das Râmâyana,
liest, wird nach seinem Hinscheiden samt Kindern und Kindeskindern und
seinem ganzen Anhang im Himmel selig werden.
Ein Brahmane,
der es liest, wird redegewaltig, ein König erlangt Herrschaft über
die Erde, ein Kaufmann macht mit seinen Waren gute Geschäfte und ein
Shûdra selbst
gelangt zu Größe.«
Bezeichnend
ist auch die Sage von Dâmodara II.,
einem König von Kaschmir, der durch einen Fluch in eine Schlange verwandelt
wurde und nicht früher von dem Fluche befreit werden kann, bis er
das ganze Râmâyana an
einem einzigen Tage sich hat vorlesen lassen 1).
Aber gerade
die Volkstümlichkeit des Râmâyana
ist, wie beim Mahâbhârata,
wieder nur ein Grund dafür, daß uns das Gedicht nicht in seiner
ursprünglichen Gestalt, sondern durch Zusätze und Änderungen
vermehrt und vielfach entstellt überliefert ist. Das Werk, so wie
es uns vorliegt, besteht aus 7 Büchern und enthält ungefähr
24 000 Doppelverse (Shlokas):
was aber von diesen alt oder jung bzw. echt oder unecht ist, werden wir
erst entscheiden können, wenn wir einen kurzen Überblick über
den Inhalt des Gedichtes gegeben haben.
Inhalt
des Râmâyana 2).
Das erste
Buch, Bâlakânda (»Abschnitt
von der Kindheit«) genannt, beginnt mit einer Einleitung über
die
1)
Kalhanas Râjataranginî
I,166.
2)
Eine vollständige deutsche Übersetzung gibt es nicht. Es gibt
eine italienische Übersetzung von Gaspare Gorresio, Parigi 18471858
(5 Bände), eine französische von H. Fauche, Paris
18541858 (9 Bände),
eine englische in Versen von Ralph T.H. Griffith, Benares und London 18701874
(5 Bände), neu gedruckt in 1 Bd. Benares 1895, und eine englische
Prosaübersetzung von Manmatha Nath Dutt,
Calcutta 189294 (7 Bände). Eine abgekürzte Widergabe des ganzen
Gedichtes in schönen englischen Versen ist Romesh Dutts prächtiges
Buch 'Ramayana,
The Epic of Rama,
Prince of India, Condensed into English Verse', London 1900. Inhaltsangaben
in den (oben S.404 A.) genannten Werken von Jacobi und Baumgartner. In
gedrängtester Kürze hat F. Rückert in dem Gedicht »Ramas
Ruhm und Sitas Liebesleid« (Ges. poetische Werke in 12 Bänden,
Frankfurt a.M. 1868, III,268 ff.) den Inhalt wiedergegeben.
408
Entstehung
des Gedichtes und erzählt die Jugendgeschichte des Râma
1). Aber genau so wie
im Mahâbhârata wird
auch in diesem Buche der Gang der Erzählung durch die Einfügung
zahlreicher brahmanischer Mythen und Legenden unterbrochen; und manche
von diesen sind dieselben, die in verschiedenen Versionen auch im Mahâbhârata
vorkommen. So genügt eine Erwähnung
des Rshyashrnga,
um die uns schon bekannte Legende zu erzählen 2).
Das Auftreten von Vasishtha und
Vishvâmitra gibt
Anlaß zur Erzählung von zahlreichen auf diese altberühmten
Rshis bezüglichen Sagen. So wird namentlich die Geschichte
von Vishvâmitras Bußübungen,
die er vollzog, um Brahmane zu werden, sowie von den Versuchungen dieses
Rshi durch die Apsaras Menakâ
und Rambhâ ausführlich
erzählt 3). Zum Vishvâmitra-Sagenkreis
gehört auch die alte Sage von Shunahshepa
4). Von anderen Mythen
und Sagen seien noch erwähnt die von der Zwerginkarnation des Gottes
Vishnu (I,29), von der Geburt des Kriegsgottes Kumâra
oder Kârttikeya
(I,3537), von den 60 000 Söhnen
des Sagara
1)
Nur dieses erste Buch ist vollständig in deutsche Prosa übertragen
von J. Menrad, »Râmâyana,
das Lied vom König Râma, ein ältindisches Heldengedicht
des Vâlmîki»
usw., München 1897.
2)
I, 911. Übersetzt von Otto Wilmans in »Polyglotte
der Orientalischen
Poesie« von H. Jolowicz, 2.Ausg. Leipzig 1856,
S. 83ff. Vgl.
H. Lüders in den Nachrichten der K.Ges. der Wiss. zu Göttingen,
phil.-hist. Kl. 1897, Heft 1, S. 18 ff. und oben S. 342 ff.
3)
1,-5165. Übersetzt von Franz Bopp, über das Conjugationssystem
der Sanskritsprache usw. Frankfurt a. M. 1816, S; 159 ff.
Aus
dieser Übersetzung lernte Heine die Sage kennen, oben S. 346.
4)
1, 62, vgl. oben S. 183 ff.
409
(des Ozeans)
und der Herabkunft der Gangâ vom
Himmel 1) und von der Quirlung des Ozeans durch die
Götter und Dämonen 2).
Aus der Einleitung
sei nur die hübsche Geschichte von der Erfindung des Shloka
3) hervorgehoben:
Vâlmîki
wandelt am Ufer eines Flusses durch den Wald. Da bemerkt er ein Brachvogelpärchen,
welches lieblich singend im Grase umherhüpft. Plötzlich kommt
ein böser Jäger daher und tötet das Männchen mit seinem
Pfeile. Wie nun der Vogel sich in seinem Blute wälzt und das Weibchen
in kläglichen Tönen um ihn jammert, wird Vâlmîki
von tiefstem Mitleid ergriffen, und seiner Brust entringt sich ein Fluch
gegen den Jäger. Die Worte des Fluches aber nehmen von selbst die
Form eines Shloka an,
und Gott Brahman beauftragt
den Dichter, die Taten des Râma eben
in diesem Versmaße zu besingen.
Über
die Jugendgeschichte des Râma wird
im ersten Buch folgendes erzählt:
Im Lande der
Kosala (nördlich
vom Ganges) in der Stadt Ayodhyâ (dem
heutigen Oude) herrschte ein mächtiger und weiser König, namens
Dasharatha. Dieser
war lange Zeit kinderlos. Da entschloß er sich, ein Pferdeopfer darzubringen.
Der Seher Rshyashrnga ward
als Opferleiter für dieses große Opfer gewonnen, und er bringt
eine besonders zauberkräftige, die Erzeugung von Söhnen bewirkende
Opferspende dar. Gerade zu der Zeit hatten die Götter im Himmel von
dem Dämon Râvana viel
zu leiden. Sie wenden sich daher an Vishnu
mit der Bitte, er möge Mensch werden,
um als solcher den Râvana zu
töten. Vishnu willigt
ein und entschließt sich, als Sohn des Dasharatha
auf der Erde geboren zu werden. Nachdem also
das Pferdeopfer vollendet war, gebaren dem König Dasharatha
seine drei Frauen vier Sohne: Kausalyâ
gebar den Râma (in
welchem Vishnu sich
verkörpert hatte), Kaikeyi den
Bharata, Sumitrâ
den Lakshmana
und den Shatrughna.
Von diesen vier Prinzen war Râma,
der Älteste, der erklärte Liebling des Vaters. Von Jugend auf
aber war Lakshmana dem
älteren Bruder aufs innigste zugetan. Er war wie sein zweites Leben
und tat alles, was er ihm.nur an den Augen absehen konnte.
1)
I,3844. Dieses Stück hat schon A.W. von Schlegel in seiner »Indischen
Bibliothek« I (Bonn 1823), S.50 ff. übersetzt. Auch A. Hoefer,
Indische Gedichte II, 33 ff.
2)
I, 45. Vgl. oben.S.332.
3)
I, 2. Übersetzt von F. von Schlegel, Über die Sprache und Weisheit
der Indier, S.266. H. Jacobi (Das Râmâyana,
S.80 f.) vermutet, daß dieser Sage das Tatsächliche zugrunde
liege, daß der epische Sloka in seiner endgültigen Form auf
Vâlmîki zurückgehe.
410
Als die Söhne
herangewachsen waren, kam der große Rshi
Vishvâmitra an den Hof des Dasharatha.
Mit ihm zogen Râma und
Lakshmana aus,
um Dämonen zu töten, wofür sie von dem Rshi
mit Zauberwaffen belohnt wurden. Visvâmitra
geleitet die Prinzen auch an den Hof des Königs
Janaka von Videha.
Dieser hatte eine Tochter, namens Sîtâ.
Sie war kein gewöhnliches Menschenkind, sondern als der König
einst den Acker pflügte, war sie aus der Erde hervorgekommen daher
ihr Name Sîtâ,
»die Ackerfurche« und Janaka
hatte sie als Tochter aufgezogen. Der König
besaß aber einen wunderbaren Bogen und hatte verkünden lassen,
daß er seine Tochter Sîtâ
nur demjenigen zur Frau geben werde, der diesen
Bogen zu spannen vermöchte. Viele Fürsten hatten es bereits vergebens
versucht. Da kam Râma und
spannte den Bogen, so daß er mit Donnergetöse entzweibrach.
Hocherfreut gibt ihm der König seine Tochter zur Frau. Dasharatha
wird benachrichtigt und herbeigeholt, worauf
unter großem Jubel die Hochzeit von Râma
und Sîtâ
gefeiert wird. Und viele Jahre lebten die
beiden in Glück und Wonne.
Die eigentliche
Verwicklung beginnt mit dem zweiten Buch, welches die Ereignisse am Königshofe
von Ayodhyâ schildert
und daher Ayodhyâ-Kânda
betitelt ist 1):
Als Dasharatha
sein Alter herannahen fühlte, beschloß
er, seinen Lieblingssohn Râma zum
Thronnachfolger einzusetzen und ließ durch seinen Hauspriester Vasishtha
alle zur Weihe nötigen Vorbereitungen
treffen. Das bemerkt die bucklige Zofe der Königin Kaikeyî,
und diese stiftet ihre Herrin an, daß sie beim König die Einsetzung
ihres eigenen Sohnes Bharata zum
Thronnachfolger durchsetze. Der König hatte ihr einmal zwei Wünsche
freigestellt, die sie sich bisher noch vorbehalten hat. Nun verlangt sie
von dem König, daß er den Râma
auf vierzehn Jahre verbanne und ihren Sohn
Bharata zum Thronfolger
bestimme. Der König ist niedergeschmettert, aber Râma
selbst, sobald er von der Sache erfährt,
zögert keinen Augenblick, in die Verbannung zu gehen, damit nur sein
Vater keinen Wortbruch begehe. Vergebens suchen seine Mutter Kausalyâ
und sein Bruder Lakshmana
ihn zurückzuhalten. Er besteht darauf,
daß es seine höchste Pflicht sei, dem Vater zur Erfüllung
seines Versprechens behilflich zu sein. Alsbald teilt er auch seiner Gemahlin
Sîtâ mit,
daß er entschlossen sei, als Verbannter in den Wald zu gehen. Sie
aber fordert er auf, dem Bharata gegenüber
freundlich zu sein, am Hofe des Dasharatha
fromm und enthaltsam zu leben und dem Vater
und den Müttern 2) gehorsam zu dienen. Sîtâ
aber antwortet ihm in einer
1)
Eine freie und gekürzte poetische Bearbeitung dieses Buches ist »Rama,
ein indisches Gedicht nach Walmiki«,
deutsch von Adolf Holtzmann. 2.Aufl., Karlsruhe 1843.
2)
Es ist interessant, daß Râma stets
von allen Frauen seines Vaters als seinen »Müttern« spricht.
411
herrlichen
Rede über die Pflichten der Ehefrau, daß nichts sie abhalten
werde, ihm in den Wald zu folgen:
»Denn
nicht dem Vater, nicht dem Sohn, der Mutter nicht und nicht
sich selbst,
Nur dem Gemahle
soll das Weib im Leben folgen und im Tod.
Wenn heute
du, o Raghaver 1),
zum wilden Walde wandern willst,
So brech'
ich vor dir her das Gras, daß nicht sein scharfer Halm
dich sticht .
. .
Jahrhunderte
verschwinden mir, wenn ich bei dir bin, wie ein Tag
Im Himmel
selbst vermocht' ich nicht zu leben, Rama, fern
von dir;
Und ohne dich
kenn' ich kein Glück, und keinen Himmel ohne dich.
2)
Râma
schildert ihr alle Schrecken und Gefahren
des Waldes, um sie von ihrem Entschlüsse abzubringen. Sie aber bleibt
fest und will von einer Trennung nichts wissen; wie Sâvitri
einst dem Satyavat
folgte, so wolle sie von ihm nicht weichen.
Da willigt
Râma endlich
ein, daß Sîtâ mit
ihm in den Wald ziehe. Der treue Lakshmana
läßt sich selbstverständlich
auch nicht davon abbringen, dem Bruder in die Verbannung zu folgen. Nur
in Bastgewänder gehüllt, ziehen die Verbannten unter der Teilnahme
der ganzen Bevölkerung in den Wald.
König
Dasharatha aber
kann den Schmerz um den Verlust des Sohnes nicht verwinden. Wenige Tage,
nachdem Râma in
die Verbannung gezogen war, erwacht um Mitternacht der König aus unruhigem
Schlafe. Da erinnert er sich eines in seiner Jugend begangenen Frevels;
er erzählt der Kausalyâ,
wie er einst auf der Jagd aus Versehen einen jungen Einsiedler getötet,
und wie dessen blinder Vater ihm geflucht habe, er solle aus Kummer über
den Verlust seines Sohnes sterben. Nun geht dieser Fluch in Erfüllung:
»'Mein
Gedächtnis schwindet und ich sehe
Schon des
Todesgottes Boten, wie sie
An mein Lager
treten: o wenn Râma
Mich nur einmal
noch mit seiner lieben
Hand berührte,
wenn ich nur noch einmal
Des Zurückgekehrten
Stimme hörte,
Neues Leben
würde das mir schenken,
Wie wenn halb
Verschmachteten nun auf einmal
Himmelsfrucht
gereicht wird: aber sage,
Gibt es einen
herbern Schmerz als diesen,
Daß
ich in den letzten Augenblicken
Râmas
teures Angesicht nicht sehe? ...'
J)
Raghava, »Nachkomme
des Raghu«,
d.i. Râma.
2) II, 27. Nach Holtzmann, »Rama«,
815ff.
412
Also, des
verbannten Sohns gedenkend,
Nach dem Fernen
schmachtend, lag der König
Im Verscheiden,
gleich den Nachtgestirnen,
Wenn sie in
dem Morgenstrahl erblassen,
Auf dem Lager
da. 'O Râma!
Râma!'
Seufzt' er
nochmals 'o mein Sohn!' Stets matter
Werdend, haucht'
er den geliebten Namen,
Und Kausalyâ,
seine Gattin, lauschte
Angstvoll
seinen letzten Atemzügen ...
Nach dem Fluche
jenes frommen Büßers,
Dem er einst
den Sohn getötet hatte,
War der König
Dasharatha also
Selbst im
Kummer um den Sohn verschieden.« 1)
Nach dem Tode
des Königs wird Bharata,
der in Râjagrha weilt,
herbeigeholt und von seiner Mutter Kaikeyî
sowie von den Räten aufgefordert, den
Thron zu besteigen. Bharata aber
will davon nichts wissen, sondern erklärt ganz entschieden, daß
die Herrschaft dem Râma zukomme
und er ihn zurückbringen wolle. Mit großem Gefolge macht er
sich auf, den Bruder abzuholen. Währenddessen weilt Râma
im Citrakûtagebirge
und schildert eben der Sîtâ die
Schönheiten der Landschaft 2), als man Staubwolken
aufwirbeln sieht und den Lärm eines nahenden Heeres vernimmt. Lakshmana
steigt auf einen Baum und sieht das Heer des
Bharata herankommen.
Er glaubt, es handle sich um einen feindlichen Angriff und gerät in
mächtigen Zorn. Aber bald bemerkt er, daß Bharata
sein Heer zurückläßt und allein
herankommt. Er nähert sich dem Râma,
wirft sich ihm zu Füßen, und die Brüder umarmen einander.
Nun berichtet Bharata mit
vielen Tränen und Anklagen gegen sich selbst und seine Mutter Kaikeyî
dem Râma
den Tod des Vaters und fordert ihn auf, zurückzukehren
und die Herrschaft anzutreten. Râma
sagt, er könne weder ihm noch seiner
Mutter einen Vorwurf machen; was aber der Vater angeordnet, das müsse
ihm auch jetzt noch teuer sein, und von seinem Entschlüsse, vierzehn
Jahre im Walde zu verbringen, werde er nie und nimmer abgehen. Vergebens
sind alle Bitten des Bharata,
der ihn an den Hingang des Vaters erinnert. Râma
bringt unter vielen Wehklagen die Totenspenden
für den Dahingeschiedenen dar, bleibt aber in seinem Entschlüsse
fest. Den wehklagenden Bruder tröstet Râma
mit einer herrlichen Rede über die naturnotwendige
Vergänglichkeit des Daseins und die Unvermeidlichkeit des Todes, die
jede Klage als unvernünftig erscheinen lasse.
1)
Übersetzt von Ad. Friedr. Grafen von Schack, Stimmen vom
Ganges (Stuttgart
1877) S.106119: »Der Tod des Dasaratha«.
2)
II, 94. Eine prächtige Naturschilderung, wie sie im Râmâyana
nicht selten
sind.
413
»Zerrinnen
muß, was aufgehäuft, und sinken, was erhaben ist;
Sich trennen,
was verbunden ist, und sterben, was da Leben hat.
Wie jede Frucht,
indem sie reift, dem sichern Fall entgegengeht,
So kommt der
Mensch von der Geburt dem Tode näher jeden Tag;
Und wie ein
festgestütztes Haus doch endlich morsch zusammenstürzt,
So schwindet
auch der Mensch dahin, dem Tod und Alter Untertan. ...
Im weiten
Meere treffen sich zwei Splitter Holz; für kurze Zeit
Sind sie beisammen,
bis die Flut sie wieder auseinandertreibt.
So Gattinnen
und Kinder auch, Verwandte, Freunde, Hab' und Gut;
Sie kommen
und sind wieder fern, urplötzlich trifft uns ihr Verlust ...
Da unsre Lebenszeit
verstreicht, wie Wasser, das zurück nicht fließt,
So suche man
das eig'ne Heil und seiner Untergeb'nen Glück.« 1)
Auch die Räte
kommen herbei, um den Râma aufzufordern,
daß er die Herrschaft antrete. Einer von diesen, Jâbâli,
ein arger Ketzer und Vertreter nihilistischer Ansichten, sucht ihm seine
moralischen Bedenken auszureden. Jeder lebe nur für sich, um Vater
und Mutter brauche man sich nicht zu kümmern, mit dem Tode sei alles
aus, das Gerede von einem Jenseits werde nur von schlauen Priestern verbreitet,
um Geschenke zu erhalten, darum möge er nur seinen Verstand zu Rate
ziehen und den Thron besteigen. Entschieden weist Râma
diese Lehren des Nihilisten 2)
zurück. Aber auch die Vorstellungen des frommen Priesters Vasishtha
vermögen ihn nicht umzustimmen. Und schließlich
muß sich Bharata dazu
bequemen, die Herrschaft für Râma
zu führen. Râma
übergibt ihm seine Sandalen als Symbol
der Herrschaft 3), und Bharata
kehrt nach Ayodhyâ
zurück, wo Râmas
Sandalen als Vertreter des Königs feierlich
auf den Thron gesetzt werden, während er selbst nach Nandigrâma
übersiedelt, um
1)
II, 105, 16 ff. nach Holtzmann, »Rama«,
1930 ff. Sprüche dieser Art gehören zu dem schon öfter erwähnten
Gemeinbesitz indischer Dichter. Sie begegnen uns fast wörtlich wieder
im Mahâbhârata,
in Purânas,
in der Rechtslitteratur (z.B. Vishnusmrti XX, 32), in der
buddhistischen Spruchweisheit, in den Sprüchen des Bhartrhari
usw. Die Trostrede des Râma
bildet auch den Kern des Dasaratha-Jâtaka;
vgl. unten S.433.
2)
Der Ausdruck entspricht genau dem Sanskrit nâstika
»einer der
lehrt, daß es nichts gibt (nâsti)«.
Hier werden dem Râma die
Worte in den Mund
gelegt: »Wie ein Dieb ist der Buddha,
und der
Tathâgata,
wisse, ist ein Nâstika.«
Dieser nicht einmal in allen Rezensionen
vorkommende Vers ist längst als entschieden unecht erwiesen (Jacobi
a.a.O. S.88 f.).
3)
Über den Schuh als Rechtssymbol im altnordischen und altdeutschen
Recht vgl. Jacob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 4.Aufl.,
1899, I,213ff. Schon A. Holtzmann vergleicht die auffallend ähnliche
hebräische Sitte, Ruth 4, 7.
414
von
dort aus für Râma als
dessen Stellvertreter die Regierungsgeschäfte zu besorgen.
Mit dem dritten
Buche, welches das Waldleben der Verbannten schildert und daher Aranya-Kânda,
»Waldabschnitt«, heißt, treten wir gewissermaßen
aus der Welt der Wirklichkeit in eine bunte Märchenwelt, die wir bis
zum Ende des Gedichtes nicht mehr verlassen. Während uns das zweite
Buch das Leben und Treiben an einem indischen Fürstenhof vorführt
und von einer Hofintrige ausgeht, wie solche mehr als einmal in Indien
wirklich vorgekommen sind märchenhaft ist dabei höchstens der
übertriebene Edelmut der beiden Brüder Râma
und Bharata ,
beginnen mit dem dritten Buche die Kämpfe und Abenteuer des Râma,
welche dieser mit märchenhaften Gestalten und dämonischen Wesen
zu bestehen hat.
Als die Verbannten
längere Zeit in dem Dandakawalde
gelebt hatten, baten die dort lebenden Waldeinsiedler den Râma
um Schutz gegen die Râkshasas.
Râma verspricht
diesen Schutz und beschäftigt sich von da an fortwährend mit
Kämpfen gegen diese teuflischen Ungeheuer. Der menschenfressende Riese
Virâdha ist
der erste, dem der Garaus gemacht wird 1). Verhängnisvoll
für die Verbannten ist das Zusammentreffen mit Shûrpanakhâ
(«Krallen so groß wie Worfschaufeln
habend»), der Schwester des Râvana.
Diese Teufelin verliebt sich in Râma
und macht ihm Liebesanträge. Er aber
verweist sie auf seinen Bruder Lakshmana,
der noch nicht verheiratet sei 2). Lakshmana
verbittet sich höhnisch ihre Annäherungen. Zornentbrannt will
sie die Sîtâ verschlingen.
Da schneidet ihr Lakshmana
Ohren und Nase ab. Heulend flieht sie zu ihrem Bruder Khara.
Dieser zieht zuerst mit 14, dann mit 14 000 Râkshasas
gegen Râma
zu Felde, aber dieser macht sie alle nieder.
Nachdem auch Khara gefallen
ist, eilt Sûrpanakhâ nach
Lanka, einem
fabelhaften Lande jenseits des Ozeans 3), und. stachelt
ihren Bruder Râvana,
ein zehnköpfiges Ungeheuer und Beherrscher von Lanka,
zur Rache gegen Râma auf.
Zugleich schildert sie ihm die wunderbare Schönheit der Sîtâ
in den verlockendsten
1)
Hier folgen (in den Gesängen 814) wieder allerlei Legenden, z.B.
von dem Rshi Agastya
u.a. ganz wie in Buch I und im Mahâbhârata.
2)
Diese Stelle ist einer der vielen Beweise für die Unechtheit des ersten
Buches, in welchem erzählt wird, daß die Brüder des Râma
sich zugleich mit diesem verehelichten.
3)
Nicht, wie man gewöhnlich anzunehmen pflegt, Ceylon. Erst eine viel
spätere Zeit hat Lanka mit
Ceylon gleichgesetzt. Siehe Jacobi, Râmâyana,
S.90ff.
415
Farben und
reizt ihn, sich ihrer zu bemächtigen und sie zu seiner Gattin
zu machen. Da macht sich Râvana
auf, fährt mit seinem goldenen Wagen
durch die Lüfte über den Ozean hinüber und trifft dort den
als Büßer lebenden Mârica,
einen ihm befreundeten Dämon, mit dessen Hilfe es ihm gelingt, Sîtâ
von ihren Beschützern zu trennen und
zu rauben. Er entführt sie auf seinem Wagen durch die Lüfte.
Sîtâ ruft
laut um Hilfe. Der Geier Jatâyus,
ein alter Freund des Dasharatha,
kommt herbeigeflogen, es gelingt ihm, den Wagen des Râvana
zu zerschmettern, aber schließlich wird
er doch selbst von Râvana niedergemacht.
Der Dämon ergreift Sîtâ abermals
mit seinen Krallen und fliegt mit ihr fort. Wie sie im Fluge durch die
Lüfte getragen wird, fallen die Blumen aus ihrem Haar, und die edelsteingeschmückten
Bänder gleiten von ihren Füßen auf die Erde. Die Bäume,
in deren Zweigen der Wind rauscht, scheinen ihr zuzurufen: »Fürchte
dich nicht!«; die Lotusse lassen ihre Blütenköpfe hängen,
als trauerten sie um die geliebte Freundin; Löwen, Tiger und andere
wilde Tiere laufen wie im Zorn hinter dem Schatten der Sîtâ
her; mit tränenüberströmten
Gesichtern den Wasserfällen und emporgestreckten Händen
den ragenden Gipfeln scheinen die Berge um Sîtâ
zu jammern. Die erhabene Sonne selbst, indem
beim Anblick der geraubten Sîtâ
ihre Strahlen sich verdunkeln und ihre Scheibe
verblaßt, scheint zu klagen: »Kein Recht gibt es mehr, keine
Wahrheit, keine Rechtschaffenheit, keine Unschuld, wenn Râvana
die Gemahlin des Râma,
die Sîtâ,
raubt« (III,52, 3439). Râvana
aber fliegt mit der Geraubten über den Ozean hinüber nach Lanka,
wo er sie in seinem Frauenhaus unterbringt. Er führt sie in seinem
Palaste herum, zeigt ihr all seine Herrlichkeiten und schildert ihr die
unermeßuchen Reichtümer und Wunderwerke, über die er gebietet.
Mit schmeichelnden Worten sucht er sie zu überreden, seine Gattin
zu werden. Sîtâ aber
antwortet ihm voll Zorn, daß sie dem Râma
nie die Treue brechen und sich nie von ihm
berühren lassen werde. Da droht ihr Râvana,
er werde sie, wenn sie ihm nicht binnen zwölf Monaten zu Willen sei,
von den Köchen in Stücke schneiden lassen und zum Frühstück
verzehren. Darauf läßt er sie in eine Grotte führen und
übergibt sie Râkshasafrauen
zur strengen Bewachung.
Mittlerweile
sind Râma und
Lakshmana
zurückgekehrt und finden zu ihrem Entsetzen die Hütte leer. Vergeblich
suchen sie Sîtâ im
Walde. Râma erhebt
bittere Klage, er befragt die Bäume, die Flüsse, die Berge und
die Tiere aber keines kann ihm von Sîtâ
Kunde geben. Endlich finden sie die Blumen
und Schmucksachen, welche Sîtâ
auf ihrem Fluge fallen gelassen, bald auch
die Trümmer von Râvana Wagen,
herumliegende Waffen und andere Spuren eines Kampfes. Râma
glaubt nicht anders, als daß Sîtâ
von Râkshasas
getötet sei, und in wahnsinniger Wut
erklärt er die ganze Welt vernichten zu wollen: Er wolle den Luftraum
mit seinen Pfeilen füllen, den Lauf des Windes hemmen, die Strahlen
der Sonne vernichten und die Erde in Dunkel hüllen, die Gipfel der
Berge herabschleudern, die
416
Teiche austrocknen,
den Ozean zertrümmern, die Bäume entwurzeln; ja die Götter
selbst, wenn sie ihm seine Sîtâ
nicht zurückgeben, werde er vernichten.
Nur mit Mühe gelingt es dem Lakshmana,
den Rasenden zu beruhigen und ihn zu weiterem Suchen zu veranlassen. Da
finden sie den Geier Jatâyus,
der sich in seinem Blute wälzt. Sterbend erzählt er ihnen noch,
was vorgefallen ist, stirbt aber mitten in seiner Erzählung. Gen Süden
wandernd stoßen die Brüder auf ein brüllendes, kopfloses
Ungeheuer, den Kabandha,
den sie von einem auf ihm lastenden Fluche befreien. Zum Danke hierfür
gibt er Râma den
Rat, er solle sich mit dem Affenkönig Sugriva
verbünden, der ihm zur Wiedergewinnung
der Sîtâ behilflich
sein werde.
Das vierte
Buch das Kishkindhâ-Kânda
erzählt von dem Bündnis, welches
Râma mit
den Affen schließt, um die Sîtâ
wiederzugewinnen.
Die Brüder
gelangen zum Teiche Pampa,
dessen Anblick Râma wehmütig
stimmt. Denn es ist Frühling, und der Anblick der erwachenden Natur
erweckt in ihm die Sehnsucht nach der fernen Geliebten 1).
Hier treffen sie bald mit dem Affenkönig Sugriva
zusammen. Er erzählt ihnen, daß
er von seinem Bruder Vâlin der
Gattin und der Herrschaft beraubt und aus dem Reiche verjagt worden sei.
Râma und
Sugriva schließen
nun ein enges Freundschaftsbündnis. Râma
verspricht dem Sugriva
Hilfe gegen Vâlin,
während Sugriva verspricht,
dem Râma bei
der Wiedergewinnung der Sîtâ beizustehen.
Vor Kishkindhâ 2),
der Residenz des Vâlin,
kommt es zu einem Kampfe zwischen den feindlichen Affenbrüdern. Râma
kommt dem Sugriva
zu Hilfe und tötet den Vâlin.
Der Affe Sugriva wird
zum König und Angada,
der Sohn des Vâlin,
zum Thronfolger geweiht.
Unter den
Räten des Sugriva ist
aber Hanumat 3),
der Sohn des Windgottes, der weiseste. Ihm schenkt Sugriva
das größte Vertrauen, und er beauftragt
ihn mit der Auffindung der Sîtâ.
Von einer Affenschar unter der Führung des Angada
begleitet, macht sich der kluge Hanumat
auf den Weg nach dem Süden. Nach mannigfachen
Abenteuern treffen sie mit Sampâti,
einem Bruder des Geiers Jatâyus,
zusammen. Dieser erzählt ihnen, wie ihm einst, als er mit seinem Bruder
um die Wette zur Sonne fliegen wollte 4), die Flügel
1)
Der ganze erste Gesang ist eine Elegie, die man »Sehnsucht nach der
Geliebten im Frühling« betiteln könnte, ganz im Stile der
späteren Kunstpoesie.
2)
Daher der Titel des IV. Buches.
3)
Auch Hanumat. Der Name bedeutet: »Der mit den Kinnbacken«.
Nach IV, 66, 24 heißt er so, weil ihm Indra
mit dem Donnerkeil
die Kinnbacken zerschlagen hat.
4)
Gleich dem Ikarus. Dieser Mythos wird erst (IV,58) nur kurz
berührt,
dann (IV,5963) in einer purânaartigen
Erweiterung erzählt.
417
versengt worden
seien, so daß er nun hilflos auf dem Vindhyagebirge
weilen müsse. Er habe aber gesehen, wie Râvana
die Sîtâ
nach Lanka entführt
habe. Er beschreibt ihnen die Lage von Lanka,
und die Affen steigen zum Ozean hinab. Als sie aber die unermeßliche
wogende See vor sich sahen, da verzweifelten sie schier, wie sie hinüberkommen
könnten. Angada aber
heißt sie nicht verzagen, »denn die Verzagtheit tötet
den Menschen, wie die wütende Schlange einen Knaben« (IV, 64,
9). Da beraten sie, wer am weitesten springen könne, und es zeigt
sich, daß keiner so weit zu springen vermag als Hanumat.
Dieser besteigt also den Berg Mahendra und
schickt sich an, über den Ozean zu springen.
Das fünfte
Buch schildert die wunderbare Insel Lanka,
die Residenzstadt, den herrlichen Palast und das Frauenhaus des Râvana,
und erzählt, wie Hanumat der
Sîtâ Nachricht
von ihrem geliebten Râma gibt
und dabei die Stärke des Feindes auskundschaftet. Den Titel Sundara-Kânda,
»der schöne Abschnitt«, mag das Buch von den vielen poetischen
Beschreibungen haben 1), oder weil es noch mehr als
alle anderen Bücher des Märchenhaften enthält. Ist schon
die ganze zweite Hälfte des Râmâyana
ein »romantisches« Epos, so ist
dieses fünfte Buch ganz besonders »romantisch« und das
Romantische ist für den indischen Geschmack immer das Schönste.
Mit einem
gewaltigen Sprunge, der den Berg Mahendra
in seine Tiefen erzittern macht und alle auf
dem Berg lebenden Wesen in Angst und Schrecken versetzt, erhebt sich der
Affe Hanumat in
die Lüfte und fliegt über den Ozean dahin. Nach einem viertägigen
Fluge, auf dem er verschiedene Abenteuer erlebt und Wundertaten verrichtet,
erreicht er endlich Lanka.
Von einem Berge aus betrachtet er die Stadt, die ihm fast uneinnehmbar
erscheint. Er macht sich so klein wie eine Katze 2)
und dringt nach Sonnenuntergang in die Stadt ein. Er besichtigt die ganze
Dämonenstadt, den Palast des Râvana
und den wunderbaren Wagen, Pushpaka
genannt, auf dem der Râkshasa
durch die Luft zu fahren pflegt. Er dringt
auch in Râvanas Frauenhaus
ein, wo er den mächtigen Dämonenfürsten inmitten seiner
Schönen ruhend erblickt 3). Nach langem vergeblichem
Suchen findet
1)
So nach Jacobi, Râmâyana,
S.124.
2)
Nach anderer Erklärung: »wie eine Bremse«. Hanumat
kann seine
Gestalt nach Belieben verändern.
3)
Diese nächtliche Serailszene wird (V, 911) im Stile der Kunstpoesie
lebendig geschildert und erinnert sehr an die Schilderung in
der Buddha-Legende,
wo der Prinz Siddhârtha, von seinen Frauen umgeben,
zu mitternächtiger Stunde erwacht und von Ekel an der
Weltlust ergriffen
wird. Die Ähnlichkeit der Situation und der Schilderung ist auffallend
genug, um die Annahme zu rechtfertigen, daß sie der Schilderung des
Ashvaghosha im
Buddhacarita V,47
ff.) nachgeahmt ist. Denn wie E.B. Cowell in der Vorrede zu seiner Ausgabe
des Buddhacarita richtig
bemerkt, bildet diese Szene einen wesentlichen Bestandteil der Buddha-Legende,
während sie im Râmâyana
nur eine ganz unnötige Ausschmückung
ist. Natürlich dürfen wir das Stück nicht dem Vâlmîki
selbst zuschreiben, sondern die Nachahmung
fällt einem »Vâlmîkiden«
(wie Jacobi die Nachfolger Vâlmîkis,
die sein Werk erweitert haben, nennt) zur Last.
418
er endlich
Sîtâ,
von Gram verzehrt, im Ashokahain.
Er gibt sich als Freund und Bote des Râma
zu erkennen. Sie erzählt ihm, daß
Râvana gedroht
habe, sie aufzufressen, und daß sie nach zwei Monaten sterben müsse,
wenn Râma sie
nicht vorher befreie. Hanumat aber
gibt ihr die bestimmte Zusicherung, daß Râma
kommen werde, sie zu befreien').
Darauf begibt
sich Hanumat wieder
auf den Berg, fliegt über den Ozean hinüber und erzählt
den dort auf ihn wartenden Affen seine Erlebnisse auf Lanka.
Dann geht er zu Râma,
berichtet ihm, wie er die Sîtâ
angetroffen, und überbringt ihm ihre
Botschaft.
Das sechste
Buch, welches den grqßen Kampf zwischen Râma
und Râvana
schildert daher Yuddha-Kânda,
»Kampfabschnitt«, genannt ist das umfangreichste von
allen.
Râma
preist den Hanumat
wegen der erfolgreichen Erfüllung seiner
Sendung und umarmt ihn herzlich. Doch verzweifelt er bei dem Gedanken an
die Schwierigkeit, über den Ozean zu gelangen. Sugriva
rät, eine Brücke nach Lanka
zu schlagen. Hanumat
gibt eine genaue Beschreibung der Stadt des
Râvana und
ihrer Befestigung und erklärt, daß die Haupthelden
des Affenheeres imstande sein
1)
Hanumats Mission
ist damit erfüllt, und die folgende Erzählung (4155) ist ohne
Zweifel ein späterer Einschub: Um die Stärke des Feindes zu erproben,
zettelt Hanumat durch Zerstörung des Asokahains einen Streit an. In
gewaltigen Kämpfen mit Tausenden von Râkshasas
bleibt er allein Sieger. Schließlich
wird er aber gefesselt und vor den Dämonenkönig geführt.
Hanumat gibt
sich als Bote des Râma zu
erkennen und fordert die Zurückgabe der Sîtâ.
Râvana will
ihn töten, läßt sich jedoch überreden, ihn als Gesandten
zu schonen. Um ihn aber zu strafen, läßt er dem Affen in Öl
getränkte Baumwolllappen um den Schwanz wickeln und diese anzünden.
Sîtâ hört
davon und betet zu Agni,
dem Feuergott, er möge den Hanumat nicht
verbrennen. Der Affe springt nun mit dem brennenden Schwanz von Haus zu
Haus und setzt die ganze Stadt in Brand, während er selbst unversehrt
entkommt. Die Unechtheit dieses Stückes hat Jacobi a. a. O. S. 31
ff. unwiderleglich bewiesen.
419
würden,
sie zu bezwingen. Râma gibt
daher den Befehl, das Heer in Marschordnung aufzustellen, und bald bricht
das ungeheure Affenheer gegen Süden auf, dem Meeresstrande zu.
Als die Nachricht
von dem heranrückenden Affenheere nach Lanka
gedrungen war, berief Râvana
seine Räte lauter große und mächtige
Râkshasas
zu einer Beratung. Während nun alle anderen Verwandten und Räte
mit prahlerischen Reden den Râvana
zum Kampfe anspornen, weist Vibhîshana,
Râvanas Bruder,
auf ungünstige Vorzeichen hin und rät, Sîtâ
zurückzugeben. Râvana
ist darüber sehr aufgebracht und beschuldigt
ihn des Neides und der Miß-gunst; Verwandte, sagt er, seien ja immer
die ärgsten Feinde eines Königs und Helden. Von seinem Bruder
aufs tiefste gekränkt, sagt sich Vibhîshana
von ihm los, fliegt mit vier anderen Râkshasas
über den Ozean hinüber und verbündet
sich mit Râma.
Auf den Rat des Vibhîshana wendet
sich Râma an
den Meergott selbst mit der Bitte, ihm beim Überschreiten des Ozeans
behilflich zu sein. Dieser ruft den Affen Nala,
den Sohn des göttlichen Baumeisters Vishvakarman,
herbei und beauftragt ihn, eine Brücke über den Ozean zu schlagen.
Auf Râmas Befehl
schleppen die Affen Felsen und Bäume herbei, in wenigen Tagen wird
eine Brücke über den Ozean gebaut, und das ganze große
Heer zieht hinüber nach Lanka.
Nun wird die
Residenzstadt des Râvana von
dem Affenheer umzingelt. Râvana
gibt den Befehl zu einem allgemeinen Ausfall.
Es kommt zu einer Schlacht und zu zahlreichen Einzelkämpfen zwischen
den Haupthelden der beiden kämpfenden Heere. Lakshmana,
Hanumat, Angada
und der Bärenkönig Jâmbavat
sind die hervorragendsten Mitstreiter des
Râma, während
auf Seite des Râvana sich
insbesondere dessen Sohn Indrajit hervortut.
Der letztere ist in allen Zauberkünsten bewandert und versteht es,
sich jeden Augenblick unsichtbar zu machen.
So
bringt er auch einmal dem Râma und
dem Lakshmana
lebensgefährliche Wunden bei. In der Nacht aber fliegt auf den Rat
des Bärenkönigs Jâmbavat der
Affe Hanumat zum
Berge Kailâsa,
um von dort vier besonders kräftige Heilkräuter zu holen. Da
sich diese Kräuter verstecken, nimmt der Affe einfach den ganzen Berggipfel
mit und trägt ihn zum Schlachtfeld, wo durch den Duft der Heilkräuter
Râma, Lakshmana
und alle Verwundeten sofort geheilt werden. Hierauf befördert Hanumat
den Berg wieder an seine Stelle zurück.