Man setzt sich an einen stillen Ort, wo die Störungen durch die
Sinne so gering wie möglich sind, man sitzt aufrecht, am besten ohne
Rückenlehne, wach, schließt die Augen und konzentriert sich
mit allen Fasern seines Gemüts
auf das Versenkungsmittel, das einem durch eine Art Selbstaufhebung, Öffnung
nach innen hin, Selbsttransparenz, die unmittelbare Erfahrung des
Unmittelbaren vermitteln soll. Der entsprechende Bewußtseinszustand
läßt sich beschreiben als wacher Tiefschlaf: Die selbstzufriedene
Ruhe der tiefen Trance, von der wir normalerweise kein Bewußtsein
haben, aber durchleuchtet von der aufmerksamen Wachheit unseres Tages.
Extreme Wachheit, nicht etwa tagträumendes Dahindämmern, bei
tiefster Ruhe in den Tiefen des innersubjektiven Ozeans diesseits aller
Objektgebundenheiten, Wogenwechsel und Wellenringe.
Und auch wir haben erkannt
und haben uns
betend versenkt
in die Liebe, die Gott für uns im Bewußtsein hat:
GOTT IST LIEBE
und wer bewußt in der Liebe bleibt,
bleibt in Gott bewußt,
und Gott bleibt in ihm bewußt.
Das stärkste Mantra im Christentum, aber durchaus nicht das einzige,
ist gewiß das
Vater-unser. Denkwürdigerweise ist darin
von dem "Namen" des Vaters die Rede, der doch eben nur "Vater" genannt
wird. Dieser "Name" soll geheiligt werden; und so kann eben die Bitte "Geheiligt
werde dein Name" garnicht auf eine namentlich unterscheidbare, biographisch
umgrenzte, mit ausschließlicher Souveränität ausgezeichnete
Persönlichkeit bezogen werden, sondern erweitert die sehnsuchtsvolle
Ehrfurcht des Betenden ins offen Unendliche, ins unendlich Offene, das
unser Ursprung, unser Ziel und unsere
Mitte ist. Wenn unserem väterlichen Ziel-Mitten-Ursprung nun aber
doch ein klanglich konkreter Name gegeben werden soll, so ist diese unendliche
Offenheit in dessen Klangstruktur hineinzunehmen, wie die Stille in ein
musikalisches Motiv hineingenommen werden kann und auch hineingenommen
werden muß, wenn das musikalische Motiv ein Meditationsmantra sein
soll. Es ist ein genialer Zug des Vater-unser, daß es die
Heiligung des Namens Gottes in der Seele bereiten will, ohne diesen Namen
klanglich zu verdichten. Nicht klanglich-körperlich, sondern rein
geistig-sinnhaft ist das Mantra dieser Bitte, eine Beziehungs-Geste, eine
intensiv von Hochachtung durchtränkte Haltung, hoch-spannend weit-offen.
Die Hauptwege bzw. Mittel der Meditation sind, wie die Tätigkeiten
des Bewußtseins überhaupt, entweder anschauungsbezogen oder
gedanklich, und ebenso wie in der alltäglichen Anschauung und
dem üblichen Denken gehen die Intentionen des anschauungsbezogenen
oder gedanklichen Meditierens über die jeweilige Anschauung und den
jeweiligen Gedanken hinaus. Ich schaue etwas an, sei es sinnlich oder in
der Vorstellung, um es zu begreifen, und ich durchdenke einen Inhalt, um
zu weiteren Gedanken, weiteren Inhalten vorzustoßen, meistens in
der Verbindung wiederum weiterer Gedanken miteinander. "Überschreiten"
ist die wesentliche Bewegungsart unseres Bewußtseins.
In jeder Anschauung schon will das Bewußtsein diese Anschauung
überschreiten, um mit der Wirklichkeit des Angeschauten zu kommunizieren,
in jedem Gedanken will es über diesen Gedanken hinausgehen, um die
Erkenntnis zu erweitern.
In einer Meditation nun will unser Bewußtsein die gewählte
Anschauung oder den gewählten Gedanken überschreiten, um sich
selbst zu finden, die Mitte aller Mitten, seine
eigene immer morgendlich aufgehende Lichtsubstanz, seine flüssige
Geistigkeit, seine schöpferische Selbstgeburt, die im alltäglichen
Leben hinter unseren situationsgebundenen Rollenspielen, Persönlichkeitsmasken
und geltungssüchtigen Geschwätzigkeiten verborgen bleibt:
Zwei scheinbare Paradoxien queren die hier gezogene Analogie der meditativen
mit der alltäglich üblichen "Überschreitung":
Zum einen, was die "Selbst"-Findung angeht: so öffnet sich das
Bewußtseinslicht der inneren Sonne,
das allsubstanzielle Ich, unsere ureigenste
unreduzierbare Selbstreferenz,
durch eine liebevolle Hingegebenheit,
durch Verehrung über Verehrung. Ich will nicht behaupten, es eröffne
sich einzig und allein durch grenzenlose Hingabe, denn vom ersten Dämmerschein
der Morgenröte
an, sobald wir etwas von Seiner Erkenntnis auch nur ahnen, ist es Gottes
Schönheit, die uns zieht, und so kommt die Verehrung schon von
selbst, sie leuchtet im Auge des Betrachters auf. Es ist nicht falsch,
zu sagen, Erkenntnis gehe der Gottesliebe
voraus, wenngleich Ehrfurcht
und Hingabe die Vorbedingung aller Weisheit sind.
Zum andern "überschreitet" der Meditierende den Gedanken denkwürdigerweise
durch absolute Beschränkung auf eben diesen Gedanken, von dem
er "ausgeht": eben indem er in ihn "hineingeht". So wird letzten Endes
die Vermittlung selbst zur unmittelbaren Erfahrung der Unmittelbarkeit.
In der Meditation wird die jeweilige Anschauung bzw. der jeweilige Gedanke
in intensivstmöglicher Konzentration festgehalten, man taucht darin
ein, hält alles andere ab, läßt nichts ohne genaue Kontrolle
zu, so dass alle Wandlungsschritte der Vorstellung oder des Begreifens
lückenlos der willentlichen Zielsetzung des Meditierenden entsprechen.
Ein ständiger innerer Reinigungsprozeß ist mit dieser Selbstkontrolle
verbunden, vor allem das Ausscheiden aller träumerischen Neigungen
und verführerischen Störungen aus dem durchsichtigen Feld der
nüchternen Wachheit. Herakles kämpft mit der Hydra, oder auch:
Herakles kämpft
mit dem "Meeresalten" Nereus (oder Proteus, was auf dasselbe hinausläuft).
Im Grunde ist jede Vorstellung, jeder Gedanke als Ausgangspunkt oder
Einstieg geeignet. Sie alle sind zunächst einmal Gestaltungen des
explosiv-expressiven Gestaltungswesen der facultas imaginandi, des
eben erwähnten "Proteus"
(oder "Nereus"), der erst dann seine Weisheiten offenbaren muß,
wenn er in einer seiner Gestalten festgehalten wird.
Das ist uns nicht fremd. Kontrolle des Anschauens zum Beispiel
bringt Kunst hervor: Der Komponist kanalisiert das wilde Getümmel
des inneren Hörens, der Maler die Farben und Formen des inneren Gesichts,
der Tänzer choreographiert die Ausdrucksvielfalt der Bewegungen, Jean
Grenouille lotet Geruchswelten aus, der Speisemeister
"schmeckt" das Wasser aus den Reinigungskrügen zu Wein um.
Selbstkontrolle des Denkens dagegen bringt deduktive Wissenschaften
hervor: Mathematik, Logik, Philosophie. Es ist gleich, wo man anfängt,
Konsequenz führt in die unendlichen Binnenräume der Wahrheit
eines jeden Gedankens.
Und so kommt es, daß es doch verschiedene Grade der Eignung und
verschiedene Einstiegswinkel der Meditationsmittel gibt, abhängig
von dem, was der Meditierende eigentlich will. Die transparentesten "Fenster"
zum Blick in den Himmel sind gewiß die religiösen Wege, die
in den Religionen gepflegten "Offenbarungen",
ihr Kultus, ihre Gebete.
Aber es gibt auch Selbst-Erschwernisse, Trainings-Schwellen, regelrechte
"Übungen" an Widerständen, am "Unmöglichen".
Wenn die Übung nicht auf Selbstkondizionierung, Abrichtung, Dressur
hinauslaufen soll, empfiehlt es sich, das Erkenntnisinteresse an oberste
Stelle zu setzen oder zum Ausgangspunkt zu machen. Reine Willensschulungen
ohne vernünftige Begründung dessen, was ich denn eigentlich will,
vergewaltigen den Menschen. Vor allem Treu und Glauben der Religionen komme
die Philosophie, erkenntnistheoretische Selbstdurchdringung der Erkenntnis;
vor allem Wollen komme das Denken! Zur Hölle mit den fremdbestimmten
Loyalitäten!
Unter den vielen Klassikern der Meditations-Lehrbücher ragt eines
ganz besonders durch seine Sorgfalt, seine klare Sprache und
seine überaus reiche Inhaltlichkeit heraus, nämlich Rudolf
Steiners"Wie
erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" Und
das will etwas heißen, denn es gab auch vorher schon gute Leitfäden,
wie das genannte Yoga-Sûtra des Patanjali
und die Bhagavad-Gîtâ; die christlichen
Anleitungen zur Meditation bei den mittelalterlichen Mönchen (Bernhard,
Mr. Eckhart, Thomas von Kempen)
und der Theresa von Avila, in der Neuzeit z.B. auch Fichtes "Anweisung
zum seligen Leben" auf Basis des Johannesevangeliums.
Meditationstaugliche Gedankengänge gibt es natürlich auch sonst,
bei anderen, wie z.B. in den Buddhareden oder
in den Himmelreich-Gleichnissen Mt
13, in den Aphorismen
des Novalis oder in Hegels
Wissenschaft der Logik, bei Nicolaus Cusanus oder Angelus Silesius.
So "viel, oh Sophie"! (Jandl)
Das Feld der äußeren und inneren Hörwahrnehmungen nimmt
eine interessante Zwischenstellung ein: Klänge sind Anschauungen,
aber als Worte tragen sie gedanklichen Sinn. Schon
Musik ermöglicht durch ihre harmonische Eigengesetzlichkeit ganze
Räume von Meditationswegen gedanklicher Art, erkenntnistief, weisheitsvoll.
Das als "Meditationsmusik" handelsübliche Gedudel ist leider völlig
unbrauchbar, langweilig, extrem hinderlich, gewissermaßen contrameditativ,
es sei denn, man möchte es sich besonders schwer machen, um seine
Konzentrationsfähigkeit inmitten höchst widriger Umstände
zu trainieren. Wird man seine Wachheit in weichen Betten liegend üben?
Musik von außen schläfert ein oder stört die Konzentration.
Meditation ist nicht Entspannung und Auflösung, sondern punktgenaue
höchste Anspannung des Geistes.
Wie ist es mit dem Klangaspekt der Sprache? Das Gesamtspektrum aller
Vokale, vergleichbar dem Farbspektrum des optischen Feldes, läßt
sich in ein-zwei Silben fassen, etwa
ieäaoum und dessen Spiegelung muoaäei
oder in vollständigen Kreisen
ieäaouüi-ieöüi-ieäaouüi
als eine Art kombinierte Schleifenbildung der großen Vokalspektrums-Kreises
ieäaouüi (oder aouüieäa)
und des kleineren ieöüi, und gewiß
ist aus dem größeren dieser beiden Vokalspektrums-Kreise das
bekannteste Klangmantra gebildet worden, das
"aum" der Vedischen Meditationstexte, zumal im
Sanskrit jene "mongolisch-deutschen" Umlaute des kleineren Vokalspektrums-Kreises
nicht vorkommen, in denen die Obertöne "auf" den Vokalfarben etwas
stärker, fast schon flötenscharf hörbar und unterscheidbar,
mitschwingen.
In der Tat sind Klangmeditationen viel üblicher und verbreiteter,
als man auf den ersten Blick meinen könnte: Die in den verschiedenen
Religionen heimischen Gottesnamen sind solche Klangmantren, und
zwar um so mehr, je mehr sie in Anrufungen, Litaneien, Rosenkränzen
o.ä. wiederholt und mit Verehrung getränkt werden, und noch stärker,
wenn die laute Aussprache des Gottesnamens
tabu wird, so daß er nur noch betend, lesend und meditativ angedacht
wird. Dann ist er ein sehr starkes Mantra, schon in seinem Klang, aber
mehr noch mit dem Inhalt, der in ihm zu denken ist.